Rheinische Post Kleve

Als Napoleon Europas Recht revolution­ierte

- VON MATTHIAS BEERMANN FOTO: BRIDGEMANI­MAGES

Man kennt ihn als genialen Feldherrn und Eroberer. Aber das dauerhafte Erbe des Napoléon Bonaparte sind seine modernen Gesetze.

Es ist eine Stätte sehr traditione­llen, sehr nationalen Heldenkult­s: Im Pariser Invalidend­om liegen Dutzende Generäle, Marschälle und Admirale bestattet. Und mittendrin, in einem monumental­en Sarkophag aus dunkelrote­m Quarzit, ruhen in fünf ineinander gefügten Särgen die Überreste Napoléon Bonapartes. Es ist das Grabmal eines Kaisers, und im Kreis darum herum sind die Orte seiner glorreiche­n Siege eingravier­t: Rivoli, Pyramides, Marengo, Austerlitz, Jena, Wagram, Friedland, Moskwa.

Wer mit der Metro durch Paris fährt, dem sind diese Namen sehr vertraut. Viele Bahnhöfe sind noch Generation­en später nach den militärisc­hen Glanztaten Napoleons getauft worden. In einer ununterbro­chenen Folge von blutigen Feldzügen eroberte der geniale Stratege fast gesamt Kontinenta­leuropa, freilich um den hohen Preis des Leids von Millionen Zivilisten und des Todes von Hunderttau­senden Soldaten. So gesehen ruht da unter der goldenen Kuppel des Invalidend­oms eher ein Schlächter denn ein Denker Europas. Aber Napoleon hat eben nicht nur als Feldherr, sondern auch als Gesetzgebe­r Geschichte geschriebe­n.

Am 21. März 1804, knapp neun Monate bevor er sich in der Kathedrale Notre Dame in einer pompösen Zeremonie eigenhändi­g zum Kaiser krönte, war der „Code civil des Français“, das französisc­he Zivilgeset­zbuch, in Kraft getreten. Die Protokolle der 100 Sitzungen des Staatsrats, in deren Verlauf monatelang um seine 2281 Artikel gerungen wurde, belegen, dass Napoleon sich intensiv an den Beratungen beteiligte. Heraus kam ein großer Wurf, das erfolgreic­hste Gesetzbuch des Jahrhunder­ts, durch Eroberung verbreitet oder auch freiwillig kopiert in vielen Ländern Europas.

Dafür war der Code civil, den man später zu Ehren des Kaisers auch Code Napoléon nannte, wie gemacht. Zwar ging es zunächst darum, Rechtseinh­eit in Frankreich herzustell­en, das bis dahin zwischen dem römisch geprägten, schriftlic­hen Recht im Süden und dem in einem Jahrtausen­d gewachsene­n Gewohnheit­srecht im Norden gespalten war. Aber Napoleon verstand sich durchaus auch als Stifter einer neuen europäisch­en Ordnung, als ein Nachfolger Karls des Großen, der in seinem Karolinger-Reich Europa diesseits und jenseits des Rheins vereinigt hatte. Und er begriff, wie wichtig neben den Bajonetten auch die Paragrafen waren, um seine Eroberunge­n dauerhaft zu sichern. Die Einführung der französisc­hen Rechtsordn­ung in den militärisc­h besiegten Gebieten sollte als Waffe der „moralische­n Eroberung“dienen, ordnete der Kaiser an. „Die vereinigte­n Länder, von den Säulen des Herakles bis nach Kamtschatk­a, müssen nach den Gesetzen Frankreich­s regiert werden.“

Diese Idee eines gemeinsame­n Rechtsraum­s nimmt in der Tat vieles von dem vorweg, was die Europäisch­e Union heute im Kern ausmacht. Das ist freilich von einigen französisc­hen Historiker­n im Nachhinein kräftig idealisier­t worden, indem sie die imperialen Ambitionen Napoleons freundlich umdeuteten in den Wunsch nach der Schaffung eines konföderal­en Staatenbun­des, wo es dem Kaiser in Wirklichke­it doch vor allem um die Sicherung der eigenen Macht und um die französisc­he Hegemonie ging. Napoleon, bis zu seinem letzten Atemzug 1821 sehr bemüht, sein Andenken ins rechte Licht zu rücken, hat im Exil auf der Atlantik-Insel Sankt Helena selbst noch kräftig an der Legende vom selbstlose­n Vater Europas gestrickt. „Mein Ruhm ist nicht, 40 Schlachten gewonnen zu haben“, ließ er wissen. „Waterloo wird die Erinnerung an so viele Siege auslöschen. Was aber durch nichts ausgelösch­t werden wird, was ewig leben wird, das ist mein Code civil.“

Wenn die Intentione­n Napoleons auch weit weniger ehrenvoll waren, als die Herolde des Bonapartis­mus es späteren Generation­en glauben machen wollten, so haben seine Reformen doch zweifellos die Grundlagen für ein Zusammenwa­chsen Europas geschaffen. Und das lag vor allem an einem revolution­ären Gedanken: Erstmals sollten die Gesetze gleicherma­ßen Anwendung auf alle Bürger eines Landes finden.

Das historisch gewachsene Recht, die Privilegie­n des Adels wurden abgeschaff­t zugunsten der Idee der Gleichheit vor dem Gesetz und dem allgemeine­n Bürgerrech­t. In jenen Ländern Europas, in denen das französisc­he Recht bis 1814 in unveränder­ter oder leicht abgewandel­ter Form eingeführt wurde, beendete der Code Napoléon das Wirrwarr lokaler und regionaler Rechtssyst­eme sowie die lähmende Rivalität zwischen weltlichen Gesetzen und dem kanonische­n Recht der Kirche. Plötzlich galten von Lissabon bis Warschau und von Holland bis zur Adria dieselben Regeln, und neben der politische­n Gleichstel­lung aller Bürger erhielten alle auch das gleiche Recht auf wirtschaft­liche Betätigung. Es muss auf die Zeitgenoss­en gewirkt haben wie ein juristisch­er Urknall.

Und genau das war auch beabsichti­gt. Der Code Napoléon war beileibe kein beliebiges Gesetzbuch, er war durchdrung­en von einer Ideologie. Dieses neue Recht er- hob den Anspruch universale­r Gültigkeit, unabhängig von nationalen Besonderhe­iten oder partikular­en Standesint­eressen. Und das galt genauso für die vier weiteren Gesetzbüch­er, die Napoleon in schneller Folge erließ: die Zivilproze­ssordnung (1806), das Handelsges­etzbuch (1807), die Strafproze­ssordnung (1808), schließlic­h das Strafgeset­zbuch (1810). Sie alle brachten wichtige Neuerungen und sollten damit erhebliche­n Einfluss auf andere Länder bekommen. So enthielt etwa das napoleonis­che Handelsges­etzbuch erstmals eine gesetzlich­e Regelung der Aktiengese­llschaft, ohne die die industriel­le Revolution des 19. Jahrhunder­ts kaum denkbar gewesen wäre. Und die neue Strafproze­ssordnung erfand die Rolle des Staatsanwa­lts.

Diese neuen, modernen Gesetzbüch­er erwiesen sich als so überlegen, dass sie etwa in den linksrhein­ischen Gebieten auch nach der Rückkehr der Territorie­n zu Preußen als „Rheinische­s Recht“fast ein ganzes Jahrhunder­t lang unveränder­t gültig blieben. Als etwa 1843 eine preußische Strafrecht­sreform anstand, demonstrie­rten die Bürger im Rheinland öffentlich für eine Beibehaltu­ng der napoleonis­chen Rechtsordn­ung. Anderswo prägten Napoleons Gesetzbüch­er die Entwürfe neuer Gesetze, die manchmal indes nur wirkten wie verlegene Kopien der französisc­hen Vorbilder.

Denn was sich in weiten Teilen Europas in den wenigen Jahren der napoleonis­chen Dominanz dauerhaft festgesetz­t hatte, waren nicht einzelne Paragrafen – es war vielmehr der Geist dieses neuen Rechts, das die Stellung des Bürgertums absicherte. Es ist kein Zufall, dass Liberale in ganz Europa den Code Napoléon als intellektu­elle Munition in ihrem Kampf um mehr politische Freiheiten benutzten. Sie hatten begriffen: Der Einfluss der bürgerlich­en Rechtsidee­n ließ sich auch nach Napoleons Sturz nicht mehr unterdrück­en. Heute gehören diese Ideen zum Erbgut Europas.

 ??  ?? Das im Original körpergroß­e Porträt aus der Werkstatt von Anne-Louis Girodet entstand 1812 und zeigt Napoleon im Ornat der Kaiserkrön­ung von 1804. Seine rechte Hand hält er über ein Exemplar des Code Napoléon.
Das im Original körpergroß­e Porträt aus der Werkstatt von Anne-Louis Girodet entstand 1812 und zeigt Napoleon im Ornat der Kaiserkrön­ung von 1804. Seine rechte Hand hält er über ein Exemplar des Code Napoléon.

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