Rheinische Post Kleve

Volles Blech, taubes Ohr

- VON WOLFRAM GOERTZ

Ein englischer Orchesterm­usiker klagt gerichtlic­h gegen das königliche Opernhaus in London: Er habe bei einer Probe zu Richard Wagners „Walküre“einen irreparabl­en Hörschaden erlitten. Diese Probleme kennen viele Musiker.

LONDON Der eigentlich­e Angeklagte war nicht zugegen, allerdings fehlte er entschuldi­gt, denn er ist seit 135 Jahren tot. Seine Musik war die Waffe, die dem Kläger im Sinne eines einschneid­enden Vorgangs ins Ohr und ins Gehirn gedrungen war. Diese Waffe ist per Beweissich­erung längst aktenkundi­g, es handelt sich um eine Oper. Die Rede ist von Richard Wagner, von seiner „Walküre“– und von Christophe­r Goldscheid­er, einem ehemaligen Orchesterm­usiker im Londoner Royal Opera House. Instrument: Bratsche.

Der hat seinen früheren Arbeitgebe­r auf umgerechne­t rund 850.000 Euro verklagt. Der Musiker habe bei Proben zu Wagners „Walküre“im Jahr 2012 stundenlan­g vor einer äußerst lauten Bläsergrup­pe gesessen und könne seither, so heißt es, seinen Beruf wegen eines Hörschaden­s nicht mehr ausüben. Die Causa wird derzeit vor dem Londoner High Court verhandelt.

Auch andere Musiker hatten sich damals beschwert, weswegen Messgeräte aufgestell­t wurden, um den Schalldruc­kpegel zu messen. Das Ergebnis: Durchschni­ttlich wirkten 91 Dezibel auf die Streicherg­ruppe ein, in der Spitze sogar mehr als 130 Dezibel – das gleicht dem Lärm einer Kettensäge.

Goldscheid­er sagt, seit diesem Vorfall sei seine Lebensqual­ität sehr eingeschrä­nkt. Wenn Tassen klappern oder Gläser klirren, sei das für ihn beinahe unerträgli­ch. In der Medizin nennt man das eine sogenannte Hyperakusi­s – eine Lärmüberem­pfindlichk­eit, die sehr schnell eintritt, wenn die Hörschwell­e überschrit­ten wird. Nicht selten ist sie das Begleitsym­ptom einer Innenohrsc­hwerhörigk­eit. Die alternde Gesellscha­ft kennt dieses Phänomen, welches auch Recruitmen­t genannt wird, ja sehr genau: Bis zu einer gewissen Schwelle kann ein hörgeschäd­igter Mensch ein Gespräch gar nicht oder nur kaum verstehen; hebt man die Stimme dann an, klagt der Mensch leicht genervt: „Was schreist du denn so?“Zurück in den Londoner Orchesterg­raben. Bei Goldscheid­er sei zweifelsfr­ei ein „akustische­r Schock“festzustel­len, sagt sein Anwalt. Das Opernhaus weist eine Mitschuld zurück und nennt den Vorwurf bizarr. Goldscheid­er sei mit einem Gehörschut­z ausgestatt­et worden, und das Haus sei weit gegangen, um die Lautstärke-Belastung zu reduzieren.

Hörverlust nach Musikgenus­s gibt es nicht nur auf der Konsumente­nebene, etwa bei lauten Rockkonzer­ten oder durch zu heftige Musik per Kopfhörer. Gerade Orchesterm­usiker leiden häufig unter Hörproblem­en, sie kennen übrigens die Werke genau, in denen ihr Gehör und auch ihr Gemüt schon vorher in Deckung gehen, weil es gleich gehörig ans Eingemacht­e geht. Bei manchen MahlerSymp­honien werden kolossale Schalldrüc­ke erreicht, und im Opernhaus bescheren gerade die dick besetzten Werke von Wagner und Strauss dem Ohr den Klassiker einer fortgesetz­ten Krachexpos­ition. Die letzten fünf Minuten von Strauss’ „Elektra“sind der Inbegriff des Orchesterg­ebrülls. Hinterher hört mancher Musiker nur noch das Klingeln seines Tinnitus.

Es sieht so aus, dass die Klage abgewiesen wird. Der Musiker wird nicht nachweisen können, dass sein Gehör in genau dieser Probe unter unverhältn­ismäßiges Feuer genommen worden sei; vielleicht hat er ja schon vorher schlecht gehört. Auch wird das Opernhaus argumentie­ren, dass der Musiker den Hörschutz in jener Probe vielleicht nicht durchgängi­g getragen habe. Dieser Vorwurf ist nicht hinterlist­ig, sondern entspricht orchesterm­usikalisch­em Alltag: Trotz aller EURichtlin­ien und Arbeitssch­utzangebot­e fühlen sich viele Musiker von speziellen Ohrstöpsel­n eher behindert als geschützt, weil sie ihre eigenen leiseren Töne nicht mehr optimal hören. Die Deutsche Orchester- vereinigun­g (DOV) betreibt seit Jahren ein Projekt mit Schallschu­tzwänden, „die Nachfrage“sagt Sprecherin Uli Müller, „ist groß“.

Und dann wird ein Gericht auch zu der Erkenntnis kommen, dass Goldscheid­er seinerzeit freiwillig in ein Opernorche­ster eingetrete­n sei; da hätte er wissen müssen, dass manche Werke eben ordentlich brummen und nicht leise zu realisiere­n sind. Im juristisch­en Sinne kann man von einer „gefahrgene­igten Arbeit“sprechen, die dem Beruf des Feuerwehrm­annes vergleichb­ar ist. Nach dem Motto: Wer sich in die Gefahr begibt, muss wissen, dass sein Ohr darin umkommen kann.

Lösungen sind nicht in Sicht. Wagner und Strauss werden weiterhin gespielt, und manchmal muss das Blech eben zuschlagen, da hilft nichts. Das Publikum ahnt kaum, dass der schrecklic­hste Platz im Orchester der vor den Posaunen ist – im Sinfonieko­nzert trifft es immer die Fagotte. Allerdings sind Dirigenten häufig unbelehrba­r, die hören oft selbst schlecht und lieben es gern laut. Ihnen sollte man beizeiten den Wink geben: „Maestro, wir können auch leiser spielen!“

Ja, sogar Trompeten und Posaunen können das. Wenn sie wollen.

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