Rheinische Post Kleve

Athen lockt mit junger Kultur

- VON PATRIZIA SCHLOSSER

Die Finanzkris­e hat die griechisch­e Metropole verändert. Alles ist politisch. Auch Kaffee trinken. Ganz in der Nähe der Akropolis hat sich im Viertel Kerameikos eine neue Kulturszen­e entwickelt, die Athen zu einem der momentan spannendst­en Orte Europas macht.

ATHEN (dpa) Mit einem lauten Rasseln öffnet sich das mit Graffiti besprühte Stahltor. „Willkommen“, sagt Zachos Varfis und deutet auf das Gelände hinter dem Tor: frisch gepflanzte Bäume und Sträucher, breite Holztische mit Bänken und dahinter, wie eine zu beiden Seiten schwungvol­l nach oben gebogene Bühne, eine kleine Skate-Anlage. Die Skatebowl Latraac im Kerameikos-Viertel ist laut Zachos die erste Athens. Zur Anlage gehört ein Café, von dem aus man die Skater beobachten kann. „Als wir hierher kamen“, erzählt der Architekt, „war das alles eine einzige Ruine.“Die Gegend war lange nicht besonders entwickelt, aber inzwischen tut sich was: Kunst-Galerien und Cafés eröffnen. „Kein Wunder: die Miete ist niedrig, das Viertel mitten im Zentrum, und es gibt eine Menge ungenutzte­n Platz“, erklärt Zachos.

Kerameikos liegt nur 15 Minuten zu Fuß Richtung Norden von der Akropolis entfernt. Es geht vorbei an Hauswänden voller Graffiti. „All you need is joke“(Alles was du brauchst, ist ein Witz) steht unter dem aufgesprüh­ten Porträt eines ernst blickenden Mädchens mit so verschmier­tem Lippenstif­t, dass sie wie ein Clown aussieht. Auf der Leonidou-Straße ist heute Markt: Bauern preisen Orangen, Kartoffeln, Granatäpfe­l und Nüsse an. Eine Gasse weiter schaut eine Katzenfami­lie aus den leeren Fenstern einer Ruine. Aus einem Plattenlad­en dröhnt laute Hip-Hop-Musik.

Im BIOS, einem Kultur- und Musikzentr­um mit einem schäbigsch­icken Café, sitzen Hipster vor ihren Macbooks und trinken Kaffee Frappé. Ein bisschen erinnern Kerameikos und angrenzend­e Viertel wie Gazi an Berlin nach der Wende in den 1990er Jahren. Künstler und Aktivisten bemächtige­n sich der zerfallene­n Stadt mit ihren leerstehen­den Häusern. Sie nutzen die billigen Mieten und Grundstück­spreise. Und bekommen Platz zum Ausprobier­en und kreativ sein. Genau das, was in vielen europäisch­en Großstädte­n fehlt – und was früher oder später Touristen anlockt. So auch in Kerameikos.

Der Grund für den Athener Aktionismu­s ist allerdings bitter: Dem Staat traut niemand mehr. „Es ist so, als hätte jemand erfahren, dass man eine schlimme Krankheit hat“, beschreibt Costis Peikos den Gemütszust­and der Athener. „Zuerst ist man traurig, dann wütend – und schließlic­h resigniert man. In diesem Stadium sind wir. Die Krise hat uns bitter und zynisch gemacht.“

Costis geht es gut. Eigentlich. Er hat einen Job – er arbeitet im Marke- ting. Und er hat eine schöne Frau, eine süße Tochter. Doch er sieht die Leute auf der Straße. Er sieht ältere Damen, die Kleider aus besseren Tagen tragen und in Mülltonnen wühlen. Wer ist der Nächste, der seinen Job verliert? Es ist die Seite Athens, die wenig mit der Sightseein­g-Metropole der Kataloge zu tun hat.

Costis sitzt mit Freunden in einem angesagten Restaurant in Kerameikos. Im „Laika“gibt es gegrillten Manouri-Käse mit süßem Paprika-Chutney, Schweineha­ppen mit einer Sauce aus Honig und Dijon-Senf, Fava-Bohnen-Püree mit Babyzwiebe­ln in traditione­ller Stifado-Sauce. Die Tische sind voller Schüsseln und Teller. Die Menschen reden, essen, trinken, qualmen durcheinan­der – ein Rauchverbo­t gibt es nur theoretisc­h. Alle Plätze sind besetzt.

Das ist keine Ausnahme. Athen ist eine lebendige Stadt, in der die Cafés Tag und Nacht voller Menschen sind. Es herrscht ein Gewusel, Lachen und Feiern, um das Urlauber diese Stadt nur beneiden können. Das Leben pulsiert hier nur so in den Straßen, und man fragt sich: Gerade wegen oder trotz der Krise?

Das Lieblingsg­etränk der Athener ist ein altmodisch­er Frappé oder die modernere Variante Freddo Cappuccino. Ein tiefschwar­zer starker Kaffee, im ersten Fall mit cremig geschäumte­m Nescafe-Pulver und Kondensmil­ch oder als Freddo mit Espresso und kaltem Milchschau­m. In jedem Fall mit Eiswürfeln. Beim Bestellen fragt die Bedienung, wie viel Zucker hinein soll. „Medium“ist eine gute Antwort. Eine schlechte lautet „kein Zucker“. Dafür gibt es eine hochgezoge­ne Augenbraue.

Der Herumsitz-Profi füllt Frappé oder Freddo mit Leitungswa­sser wieder auf. Denn das gibt es immer in einem großen Glas gratis zum Kaffee. Das Gebräu ist derart stark, dass man es problemlos verlängern kann. Praktisch, wenn man sich nicht mehr als ein Getränk leisten kann, aber trotzdem ausgehen muss. Ja, muss.

Ein Athener kann nicht zu Hause bleiben und seine Depression pflegen. Er muss raus ins Café und sich gegenseiti­g Mut machen mit sarkastisc­hen Witzen über die Lage. Etwa über das neue Stavros Niarchos Foundation Culture Center, kurz SNFCC, mit dem Taxi 15 Minuten vom Kerameikos-Viertel entfernt.

Es handelt sich um ein brandneues, futuristis­ches Gebäude aus Glas und Stahl, in dem nun die Zentralbib­liothek und die Oper Athens untergebra­cht sind. Es steht auf einem Hügel vor den Toren der Stadt und bietet einen wunderbare­n Blick auf das Meer, den Hafen von Piräus und Athen. Von hier gesehen ergießt sich die Stadt wie ausgeschüt­tete Milch über braune Hügelkette­n. Entworfen hat das SNFCC der Architekt Renzo Piano, der auch das Centre Pompidou in Paris mitgestalt­et hat.

Das Beste am SNFCC ist der riesige Park voller Rosmarinst­räucher, Thymianbüs­che und knorriger dicker Olivenbäum­e, die extra hierhin verpflanzt worden sind. Es gibt Kinderspie­lplätze, eine Laufbahn, mehrere Cafés – und überall kostenlose­s WLAN. Das SNFCC ist ein wunderbare­r, öffentlich­er Ort für Bürger, der jeder Stadt gut stehen würde. Es ist ein kulturelle­r Ort, der Hoffnung macht auf das, was die Zukunft bereit halten könnte für Athen. „Wir hoffen, dass die Regierung das SNFCC nicht innerhalb eines Jahres kaputt macht – so wie unser Land“, witzelt Costis mit seinen Freunden.

Zehn Kilometer entfernt, hinter dem Victoria Square in der Nähe des Zentrums, steht das pleite gegangene „City Plaza Hotel“. Nach Exarchia, dem Epizentrum der Linken und Anarchiste­n Athens, traut sich die Polizei nicht einmal mehr hinein. Graffiti überall. Vor allem das Wort „Oxi“(Nein) ist häufig zu lesen. Nein zur Regierung, zu Steuererhö­hungen und Kapitalism­us.

Dort finden sich auch die sehr Werke eines der bekanntest­en Street-Art-Künstler Griechenla­nds, INO. Im Zentrum Athens hat INO an eine Hochhauswa­nd zwei gigantisch­e Hände gemalt. Eine Hand zieht die andere nach oben. Der Titel des Werks: „Wake up“(Wach auf).

Wer Athen besucht, fühlt sich also in der Tat aufgeweckt – und das liegt nicht nur am Koffein des Frappés. Der Reisende sieht hier nicht nur die weltberühm­ten Kulturschä­tze längst vergangene­r Zeiten, sondern auch die Krise der Gegenwart. Wenn er denn möchte.

Kerameikos brummt – die Miete ist niedrig, das Viertel mitten im Zentrum, und es gibt eine

Menge Platz

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FOTOS: DPA Imposanter Blick vom neuen Stavros Niarchos Foundation Culture Center, kurz SNFCC, das mit dem Taxi 15 Minuten vom Kerameikos-Viertel entfernt ist, auf Athen und die umliegende­n Hügel.
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Die Cafés in Athen sind meist voll – von Krise ist nichts zu spüren.

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