Die neue Generation im Kuhstall
Judith Siebers hat ihren elterlichen Hof, das Gut Endhuisen in Kleve, komplett umgekrempelt.
Sie setzt auf Milchtaxis und Parship für Kühe. Damit macht sie sich nicht nur Freunde.
KREIS KLEVE Bei den Siebers hängen nicht nur Familienfotos in goldenen Rahmen an der Wand, sondern auch eine Ahnengalerie prämierter Milchkühe. Das Rind von 1979, ein stämmiges braunes Tier, wirkt behäbig, der Euter hängt tief. Einen Schritt nach links, ein Bild weiter, 1990: Zwei schlanke Kühe mit Siegerschärpen stehen auf der Wiese. Sichtbar durchziehen Adern die Euter, um die Milch besser mit Nährstoffen zu versorgen. Der Bauch der Tiere ist breiter, so können die Kühe mehr fressen.
So wie sich die Kühe verändert haben, hat Judith Siebers den Hof verändert. In vierter Generation führt die 44-Jährige das Gut ihrer Eltern in Rindern. Wer sie dort besucht, merkt schnell: Judith Siebers ist nicht nur Bäuerin. Tiere füttern und Stall ausmisten gehören nur bedingt zu ihrem Alltag. Denn in den vergangenen zehn Jahren hat die Landwirtin das elterliche Gut umgekrempelt. Aus 140 Kühen sind 700 geworden. Es gibt ein Milchtaxi, das die Milch pasteurisiert und für die Neugeborenen bekömmlich macht. Die Tiere kratzen sich an Massagebürsten und tragen Fitnessarmbänder. An den Bewegungsdaten erkennt Judith Siebers, wann eine Kuh paarungsbereit oder krank ist.
Und auch sonst entspricht Judith Siebers keineswegs dem bäuerlichen Klischee. Sie diskutiert gerne über Industrialisierung und Fortschritt, über den Wechsel der Jahreszeiten und Tierhaltung. Wenn sie von der Zukunft spricht, zitiert sie Friedrich Dürrenmatt: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“Sie ist Diplom-Agraringenieurin und Unternehmerin, hat mehrere Millionen Euro in einen neuen Stall investiert. Sie ist aber auch Landwirtin, die von ihrer Hände Arbeit lebt, wie sie sagt.
So steht Judith Siebers in Overall und Gummistiefeln in dem älteren ihrer zwei Ställe. Hier gibt es einen alten Heuboden, aber auch eine Maschine, die die Kälber automatisch füttert. Ein junges Rind schleckt mit seiner rosafarbenen Zunge über Judith Siebers’ Ärmel, als ihr Handy klingelt. Ein Alarm: Die Melkmaschine im großen Stall hat einen Defekt. Der große Stall steht am Rheindeich in Griethau- sen, nur wenige Fahrminuten entfernt. „Ich finde es immer wieder faszinierend, wie still es hier ist“, sagt Judith Siebers, als sie in dem breiten Gang zwischen den Boxen steht. Um sie herum: Etwa 700 Kühe, die ihre Köpfe durch das Gatter stecken und ihre Schnauzen im Futter vergraben. Täglich kommt hier mindestens ein Kalb zur Welt, im Jahr geben die Kühe jeweils 10.000 Kilogramm Milch.
„Früher konnte man nur so viele Tiere halten, wie man auch in Augenschein nehmen konnte“, sagt sie, die Hände in die Hüften gestemmt. 118 Bauern im Kreis Kleve haben alleine in den vergangenen acht Jahren aufgegeben, 1757 Betriebe sind übrig geblieben. Als Judith Siebers den Hof ihrer Eltern übernommen hat, war ihr klar: Ganz oder gar nicht. „Der Fortschritt ist ein ganzes Stück Segen, er erleichtert uns die Arbeit.“Nur so sei sie in der Lage, mehrere Hundert Tiere zu halten, höhere Einnahmen zu generieren und am deutschen Lebensstandard teilzuhaben. „Ur- laub und Freizeit waren in vielen Landwirtsfamilien in der Vergangenheit nicht denkbar.“
Täglich um 4.30 Uhr aufstehen muss die Landwirtin nicht. Im Dezember war sie im Urlaub, mit Mann und Kindern auf den Kanaren. 14 Mitarbeiter, davon sechs im Stall, kümmern sich um Haus und
Judith Siebers Hof. Judith Siebers hat das ackerbaulich geprägte Gut ihrer Eltern zu einem größeren Milchviehbetrieb entwickelt, den sie auch mal für eine Woche verlassen kann.
Die Tiere und die Qualität der Milch hätten darunter nicht gelitten, sagt Siebers. Ihre Ställe entsprächen Bio-Standards, ihr fehle nur der Platz, um den Kühen Auslauf zu bieten. Sie bleiben ihr Leben lang im Stall, könnten sich dort aber frei bewegen. „Die Entscheidung zwischen bio und konventionell ist nicht immer die Entscheidung zwischen Gut und Böse“, sagt Siebers. „Dafür sind die Produktionsauflagen da, und sie werden erfüllt.“
Natürlich macht sich die Landwirtin mit ihren Methoden nicht nur Freunde. 2013 hatte Josef Tumbrinck, Vorsitzender des Nabu NRW, geklagt: Die Bezirksregierung habe die 2012 gebaute Stallerweiterung zu Unrecht genehmigt. Der Grund: ein formaler Fehler im Bauantrag. Doch sie habe der Bezirksregierung bei der Genehmigung vertraut. Im September 2016 erklärt das Oberverwaltungsgericht den Anbau für illegal. „Ich bin entsetzt, dass es möglich ist, dass eine Bezirksregierung einen Bauantrag genehmigt und wieder zurückzieht“, sagt die Landwirtin.
Judith Siebers hat nun einen neuen Bauantrag gestellt und hofft, dass sie den Anbau des Stalls nicht abreißen muss. Auch um Schadensersatz will sie kämpfen. Hinzu kommt, dass immer wieder auch Tierschützer auf den Hof und in die Ställe schleichen. Dort hängen jetzt Überwachungskameras.
In solchen Momenten komme sie schon ins Grübeln. „Wenn Menschen ohne fachliche Ausbildung über unsere Arbeit urteilen, fühlen wir Landwirte uns in eine Ecke gedrängt“, sagt sie und steckt die Hände in die Taschen ihres grünen Overalls. Hinter ihr hängen die Fotos der prämierten Kühe, im Nebenraum surren die Melkmaschinen. Judith Siebers nimmt sich Zeit für jeden Satz, spricht mit Bedacht. Mehr Wertschätzung für ihre Arbeit, das ist es, was sie sich wünscht. „Schließlich gehen wir vernünftig mit unseren Tieren um“, sagt sie.
Als ein Auto mit Münsteraner Kennzeichen auf den Hof fährt, weiß Judith Siebers, dass es Zeit ist für eine neue Generation. Wenn die Kühe paarungsbereit sind, kommt der Besamungstechniker. Im Kofferraum lagern Kunststoffröhrchen mit Sperma, gekühlt in flüssigem Stickstoff. Darauf stehen die Namen der Bullen: „Rusty Red“oder „Secours“. Welcher Bulle welche Kuh befruchtet, ist kein Zufall. Schon kurz nach der Geburt entnimmt die Landwirtin den Kälbern mit der Ohrmarke eine Gewebeprobe. Sie werden auf Krankheiten untersucht und der Gencode für die Abstammungskontrolle gespeichert. Wie in einem „Parship für Kühe“finden sich dann zwei Tiere, die zusammenpassen. So soll die nächste Generation besonders gesund werden.
Von ihren Kühen als ihre Kinder zu sprechen, ginge wohl zu weit. Doch zu einigen Tieren hat die Landwirtin eine persönliche Beziehung entwickelt. Manchmal, sagt Judith Siebers, fühle sie sich wie eine Schuldirektorin. Ihre Schüler seien die 700 Milchkühe. Darunter gebe es Tiere, die auffällig sind, weil sie immer in der ersten Reihe stehen. Es gebe Kühe, die Schwierigkeiten machen, weil sie krank sind oder wenig Milch geben. Und es gebe Kühe, die Judith Siebers kaum kennt, so wie eine Rektorin nicht alle Schüler kennt. Das seien die problemlosen, unauffälligen Schüler, die den Betrieb tragen – die fleißigen Lieschen.
„Früher konnte man nur so viele Tiere halten, wie
man auch in Augenschein nehmen konnte“
Landwirtin