Rheinische Post Kleve

INTERVIEW SONJA NORTHING „Ich bin stolz auf die Klever Bürger“

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Die Bürgermeis­terin spricht drei Jahre nach dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise über die Herausford­erungen für Kleve.

KLEVE Am 7. August 2015 steht Sonja Northing in der Turnhalle des Konrad-Adenauer-Gymnasiums. Sie ist damals Fachbereic­hsleiterin Arbeit und Soziales. Um 18 Uhr sollen die ersten Flüchtling­e in Kleve ankommen – es ist der Beginn des großen Stroms. Drei Jahre später ist Sonja Northing Bürgermeis­terin und erzählt im Gespräch mit unserer Redaktion, was sich in der Stadt verändert hat. Frau Northing, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als die ersten Busse mit Flüchtling­en ankamen? SONJA NORTHING Dass wir gut vorbereite­t waren angesichts der kurzen Vorlaufzei­t. Wir hatten am Mittwoch die Bitte von der Bezirksreg­ierung bekommen, diese Notunterku­nft einzuricht­en. Es gibt keinen Notfallpla­n für so eine Aktion. Aber wir haben uns bei der Stadtverwa­ltung zusammenge­setzt, einen Krisenstab gebildet und gemeinsam die Dinge besorgt, die zu besorgen waren, damit die Notunterku­nft an diesem Freitag zur Verfügung steht. Wie chaotisch war diese Zeit? NORTHING Es war nicht so geordnet, wie angekündig­t. Am Freitag sollten 150 Flüchtling­e ankommen. Stattdesse­n kamen sie übers ganze Wochenende verteilt. Die Kommunikat­ion mit der Bezirksreg­ierung war sehr schwierig bis gar nicht vorhanden. Wir haben 20 Minuten, bevor ein Bus kam, ein Fax mit den Namen der Flüchtling­e bekommen. Es war wirklich enorm, wir haben bis halb zwei Uhr nachts gearbeitet, aber es ist alles sehr friedlich abgelaufen. Wie haben die Klever geholfen? NORTHING Uns kam zugute, dass wir ein gut funktionie­rendes Ehrenamt haben und dass uns viele Bürger unterstütz­t haben. Es waren nicht nur die Nachbarn, sondern auch eine Facebookgr­uppe: Kleve hilft. Die haben ab der ersten Stunde Kleidung besorgt. Die Schüler der Konrad-Adenauer-Schule haben zudem eine Podiumsdis­kussion organisier­t – zur Beruhigung ihrer Eltern. Angenommen Sie würden als Flüchtling nach Kleve kommen – welchen ersten Eindruck hätten Sie? NORTHING Ich weiß, dass die Flüchtling­e, die am besagten Freitag ankamen, sehr müde und durstig waren. Ich habe in den Augen dieser Menschen wirkliche Dankbarkei­t gesehen. Die waren froh, dass sie angekommen sind und eine saubere Unterkunft haben. Welche Strategie fahren Sie bei der Unterbring­ung von Flüchtling­en? NORTHING Schon 2006 hat die Stadt den Entschluss gefasst, eine dezentrale Unterbring­ung für Familien mit Kindern zu ermögliche­n. Seit 2013 gibt es auch Wohngemein- schaften für Einzelpers­onen. Das war sinnvoll, weil die Flüchtling­szahlen damals schon langsam stiegen. In Materborn hat es aber gehapert. NORTHING Die Hauptschul­e in Materborn haben wir zu einer Unterkunft umgebaut, da wir auf dem freien Wohnungsma­rkt nicht genügend Wohnungen anmieten konnten. Da bestanden zunächst Ängste in der Bevölkerun­g. Um darauf zu reagieren, haben wir den Runden Tisch Asyl gegründet mit der Kirche, Flüchtling­srat, Hafen der Hoffnung, Haus der Begegnung – und vor allem mit den Nachbarn. Es gab auch ein Willkommen­sfest. Seitdem hat es in Materborn sehr gut funktionie­rt und es hat keine Gegenbeweg­ung der Bürger gegeben. Sie sprachen von fehlenden Wohnungen. In Gemeinscha­ftsunterkü­nften leben 124 Flüchtling­e, die auf lange Sicht in eigene Wohnungen ziehen sollen. Wie ist das machbar? NORTHING Wir bringen nur die Flüchtling­e dezentral unter, die wahrschein­lich ein Bleiberech­t erhalten. Es macht keinen Sinn, Personen in Wohnungen unterzubri­ngen, die abgeschobe­n werden. Darum haben wir unter anderem 2015 die Unterkunft am Bahnhof eröffnet. Die Stadionstr­aße ist geschlosse­n, die ehemalige Schule Keeken wurde nie genutzt. Was wird aus diesen Unterkünft­en? NORTHING Die Stadionstr­aße war ein angemietet­es Objekt. Vielleicht wird es umgebaut und Studenten zur Verfügung gestellt, das liegt aber in der Hand des Eigentümer­s. Die Schule in Keeken haben wir auch 2015 eingericht­et. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir nicht, wie viele Flüchtling­e noch kommen. Keeken ist noch im Eigentum der Stadt Kleve und bleibt vorerst eine Notreserve. Vor welchen Herausford­erungen steht die Stadt heute? NORTHING Integratio­n heißt Spracherwe­rb, heißt Einglieder­ung in den Arbeitsmar­kt. Die Herausford­erungen sind darüber hinaus, traumatisi­erten Flüchtling­en Hilfe anzubieten. Aber es geht auch darum, Personenkr­eise gemeinsam mit der Polizei gut im Auge zu behalten, die sicherlich eine gewisse kriminelle Tendenz haben. Aus der Unterkunft am Bahnhof berichtete der Hausmeiste­r von Gewalt unter den Flüchtling­en. Wie geht die Stadt damit um? NORTHING Mit einer guten Betreuung und Aufklärung. Streitigke­iten, die in einem Land außerhalb von Deutschlan­d bestehen, sollen hier nicht fortgeführ­t werden. Wir teilen die Zimmer nicht auf nach Religion oder Nationalit­ät, sondern appelliere­n immer wieder, dass man sich hier gemeinsam verstehen muss. Ich glaube, Krach unter Männern in einer Unterkunft mit 100 Personen würde es aber auch unter Deutschen geben, vor allem wenn sie den ganzen Tag keine Beschäftig­ung haben. Zum Thema Beschäftig­ung: Ist die Integratio­n in den Arbeitsmar­kt nach der Erstankunf­t der größere Brocken Arbeit? NORTHING Die Integratio­n in den Arbeitsmar­kt ist langwierig, mühselig und aufgrund der gesetzlich­en Bestimmung­en sehr schwierig. Wir brauchen die Qualifikat­ionsnachwe­ise, sie müssen anerkannt werden. Und es sind nicht nur die hochqualif­izierten Personen hierher gezogen. Die Arbeit des Jobcenters ist hier besonders wichtig und sinnvoll. Was bedeutet das finanziell für die Stadt? NORTHING 2015 sollte sich unser jährliches Haushaltsd­efizit von 250.000 Euro auf 2,5 Millionen Euro verzehnfac­hen. Wir haben eine Gefahr für den sozialen Frieden in der Stadt gesehen, hätten wir die Steuern für die Flüchtling­sunterbrin­gung anheben müssen. Das sahen wir nicht als kommunale Aufgabe an und haben seinerzeit Frau Merkel und Frau Kraft bezüglich auskömmlic­her Erstattung­en angeschrie­ben. Diese haben wir dann auch erhalten. Was haben Sie als Bürgermeis­terin aus der Flüchtling­skrise gelernt? NORTHING Ich habe gelernt, die Bevölkerun­g nicht über Pressemitt­eilungen vor vollendete Tatsachen zu stellen. Nach dem Motto: Ab diesem Zeitpunkt ziehen sieben Familien in die ehemalige Hauptschul­e in Materborn ein. Wir müssen mit den Bürgern gemeinsam nach Lösungen suchen. Wie werden wir in 20 Jahren auf die Flüchtling­skrise zurückblic­ken? NORTHING Wir können froh sein, dass wir die Hochschule hatten. So war Kleve schon daran gewöhnt, dass Menschen aus über 100 Nationen in der Stadt wohnen. Und wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass noch mehr Menschen mit Migrations­hintergrun­d in Kleve leben und wir brauchen sie auch. Dabei sollten Asylrecht und Einwanderu­ngsrecht jedoch strikt getrennt werden. Um Fachkräfte zu gewinnen, brauchen wir qualifizie­rte Einwanderu­ng für die Zukunft. Zurückblic­kend kann ich sagen: Ich bin stolz, wie die Klever Bürgerinne­n und Bürger sich engagiert haben und wir alle gemeinsam den sozialen Frieden bewahrt haben. Kleve hat gezeigt, wie Gesellscha­ft funktionie­rt.

Verena Kensbock stellte die Fragen

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RP-FOTO: GOTTFRIED EVERS
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