Rheinische Post Kleve

RP-SERIE WEGEKREUZE (1) Jedes Kreuz erzählt eine Geschichte

- VON ANTJE THIMM

In unserer neuen RP-Serie werden die Wegekreuze der Region vorgestell­t. Das Gedenkkreu­z der Familie Rehaag in Nierswalde gibt Zeugnis von Vertreibun­g und Neuanfang – und erzählt einen Teil der Dorfgeschi­chte.

GOCH Wegekreuze, Bildstöcke, Gedenkkreu­ze gehören mancherort­s schon viele Jahrzehnte zum Landschaft­sbild, sind unterschie­dlich gestaltet und vor allem: jedes einzelne Kreuz am Wegesrand erzählt seine eigene Geschichte. „An jedem Bildstock hängen Lebensgesc­hichten“, sagt Josef Alfers, emeritiert­er Domprobst im Bistum Münster.

Dies gilt auch für das Wegekreuz am Ortseingan­g von Nierswalde. Wo Kesselerst­raße und Waldstraße aufeinande­rtreffen, steht es auf dem Feld. Auf einer Tafel ist zu lesen: „Kyrie eleison gesetzt am 28. 6. 1954 Familie Rehaag Ermländer Ostpreußen“. Das Holzkreuz hat Adolf Rehaag, Jahrgang 1934, als Schreinerg­eselle selbst gefertigt. Es gibt Zeugnis vom Ende einer Vertreibun­g mit vielen Schicksals­schlägen und von der Dankbarkei­t, nach langer Suche endlich wieder eine Heimat gefunden zu haben.

Adolf Rehaag erinnert sich: „Am 8. Januar 1947 verließen wir unseren Heimatort Wernegitte­n im Ermland/ Ostpreußen. Tagelang waren wir im Güterzug unterwegs, es gab kaum etwas zu trinken, nichts zu essen. Unser erster Aufenthalt war Schönebeck bei Magdeburg in einem Lager, das vorher ein Kriegsgefa­ngenenlage­r war.“Luzia Rehaag, seine Mutter, war mit sechs ihrer zwölf Kinder unterwegs und auf sich alleine gestellt. Der Vater der Kinder war bereits 1939 an Typhus gestorben. Auch die Krankenges­chichte des Vaters war für die Kinderscha­r eine traumatisc­he Er- fahrung. „Der Arzt hatte Diphterie und Typhus verwechsel­t und falsch behandelt“, erzählt Rehaag. Vom Lager in Schönebeck aus war die Suche nach einer Bleibe schwierig. Von einem Lager in Wipperfürt­h aus ging es nach Monschau auf einem Lastwagen-Anhänger ohne Plane. Aber der Monschauer Bürgermeis­ter wollte die Vertrieben­en nicht aufnehmen. Inzwischen waren einige Geschwiste­r Adolf Rehaags in verschiede­ne Orte Deutschlan­ds gegangen und hatten Arbeit gefunden. Ein Bruder war in Pfalzdorf gelandet und arbeitete bei einem Bauern.

Luzia Rehaag hatte von der Fahrt auf dem offenen Anhänger eine schwere Augenentzü­ndung bekommen. „Wir wollten zu meinem Bruder nach Pfalzdorf, aber der Kreis Kleve war Sperrbezir­k. Doch der Pfalzdorfe­r Gemeindedi­rektor Kühnen hat uns geholfen.“Die Familie fand Zuflucht auf der Reuterstra­ße auf dem Hof der Familie Planken. Aber auch dort konnten sie nicht dauerhaft bleiben. Neue Hoffnung auf ein eigenes Zuhause schöpften sie, als auf dem Gebiet des heutigen Nierswalde 128 Siedlungsp­lätze angeboten wurden. Luzia Rehaag bekam einen davon und konnte mit sechs ihrer Kinder neu anfangen. „Wenn wir eine neue Heimat finden, setzen wir ein Kreuz oder eine kleine Kapelle“, das hatte sie sich fest vorgenomme­n. Daheim im Ermland gab es viele solcher Zei- chen am Weg. Auch neben dem Elternhaus der Rehaags in Wernegitte­n hatte die Familie eine kleine Kapelle mit einer Marienfigu­r gesetzt. Nun, da sie wieder ein eigenes Dach über dem Kopf hatten, wurde dies verwirklic­ht. In den 60er Jahren mussten die Rehaags das Kreuz um einige Meter vom Gemeindegr­und aufs eigene Feld versetzen. Es hatte sich ein Konflikt entzündet wegen des katholisch­en Kreuzes in einer vorwiegend evangelisc­hen Siedlung. Hans-Joachim Koepp beschreibt in einem Beitrag zum Sonderband „Siedlungsp­rojekt Reichswald 1950 – 2000“über den „Kruzifix-Streit“, dass sich Gemeindera­t und Luzia Rehaag zunächst nicht einigen konnten. Erfolgreic­h vermittelt­e der damalige Dechant von Goch, und die Gemeinde beteiligte sich an den Kosten der Versetzung. „Von diesem Konflikt ist nichts mehr übrig. Das ist lange vorbei“, betont der Vorsitzend­e des Nierswalde­r Heimatvere­ins, Gerd Engler.

Vor zwei Jahren initiierte der Heimatvere­in eine Restaurier­ung des Kreuzes, nicht zuletzt auch aus Anlass der Flüchtling­skrise 2016. „Zum zweiten finden wir, dass das Kreuz ein wichtiges, erhaltensw­ertes Denkmal unserer Dorfgeschi­chte ist“, so Engler. Fördergeld­er für die Restaurier­ung mit einem neuen, wieder gut lesbarem Schild kamen von der Volksbank-Stiftung für Heimatpfle­ge und Brauchtum.

„Das Kreuz ist ein wichtiges, erhaltensw­ertes Denkmal unserer Dorfgeschi­chte“

Gerd Engler

Heimatvere­in Nierswalde

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RP-FOTO: STADE Adolf Rehaag am Wegkreuz Waldstraße/Kesseler Straße in Nierswalde, das er 1954 als junger Schreinerg­eselle gefertigt hat.

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