Das Haus der 20.000 Bücher
Montagu erwiderte, es sei ihm nicht gelungen, von seinen Kontaktpersonen bei der Partei eine Auskunft darüber zu erhalten, ob ein Kauf der Dokumente geplant sei. Chimens einige Tage später verfasster Brief wirkt von Kummer durchtränkt. „Vielen Dank für Deine Nachricht“, schrieb er, „es ist sehr bedauerlich, dass die Marx-Briefe und -Manuskripte nun einem amerikanischen Kapitalisten zufallen, bei dem sie verschwinden, ohne je bekannt zu werden.“
Dabei hatten sowohl Mimi als auch Chimen ihre jeweiligen Amerikareisen sehr genossen: Mimi war 1933 zusammen mit ihren Schwestern und ihrer Mutter nach Amerika gefahren, um Verwandte in Connecticut zu besuchen, Chimen, der 1948 einige Wochen in den USA verbracht hatte, war sein Aufenthalt ebenfalls in guter Erinnerung. Aber obwohl die endlose Menge von Sandwiches seinem durch die Rationierung geschrumpften Magen zusagte und obwohl die vielen Cousins und Cousinen, denen er in New York, Detroit, Connecticut und anderswo begegnete, ihn wie einen hochherrschaftlichen Besucher empfingen, ließ ihn die amerikanische Kultur kalt. Er fühlte sich in Westeuropa heimisch, und in den folgenden Jahren fuhr er häufig nach Frankreich, Belgien und Holland; die Seiten mit den in seinen Pass gestempelten Visa zeugten von seinem Drang, zu reisen und etwas von der Welt zu sehen, was ihm im vorangegangenen Jahrzehnt verwehrt geblieben war. Erst Jahre später sollte sein Pass fast die gleiche Zahl Einreisestempel von der anderen Seite des Atlantiks aufweisen.
Je älter die Bewohner des Hillway wurden, desto schmieriger schien die Küche zu werden. Einmal, als meine Mutter, Jenny und Vavi die Seder-Mahlzeit zubereiteten, kam mein Cousin Rob herein, um uns zu helfen. Die Kochtöpfe waren mit Fett überzogen, und die Teller boten einen katastrophalen Anblick. „Was kann ich tun?“, fragte Rob. Er wurde gebeten, das Geschirr abzuwaschen. Rob blickte sich erstaunt um. „Ich dachte eigentlich, das erledigt man nach dem Essen“, sagte er und machte sich an die Arbeit.
In Chimens letzten Jahren, lange nach Mimis Tod, saß er oft untätig in der Küche und schaute hinaus ins Grün und zu den Eichhörnchen. Hier fütterten ihn seine Pfleger, und manchmal wurde er hier von den Krankenschwestern untersucht oder von den Sozialarbeitern begutachtet. Und obwohl sich in den letzten fünf Jahren seines Lebens, in denen Chimen immer hinfälliger wurde, in der Küche die Traurigkeit einnistete, habe ich dort mit ihm bessere Gespräche geführt als in irgendeinem anderen Zimmer des Hauses. Das Wohnzimmer Die Haskala . . . wohl gedeckt mit seinem Schilde, mit eingelegtem Speer, sprengte er an im vollsten Galopp Rosinantes und griff die erste Mühle vor sich an; aber als er ihr einen Lanzenstoß auf den Flügel gab, drehte der Wind diesen mit solcher Gewalt herum, dass er den Speer in Stücke brach und Ross und Reiter mit sich fortriß, so dass sie gar übel zugerichtet übers Feld hinkugelten.
Miguel Cervantes, Don Quijote (1605)
Während Mimi in der Küche die Suppe in ihren Töpfen umrührte und die Bratenten vorbereitete, fand sich allmählich die Gästeschar zusammen. Die ersten trafen gegen 18 Uhr ein, plauderten eine Weile am Küchentisch und zogen dann, sobald sich eine kritische Masse für ein Gespräch gebildet hatte, mit ihren Teetassen oder, zu späterer Stunde, mit ihren Weingläsern ins Wohnzimmer.
Das Wohnzimmer lag nach vorne hinaus, zum Hillway, und die Fenster des gerundeten Erkers schoben sich ein wenig in den Garten vor. Die weiße Farbe der aufklappbaren Fensterbank war in all den Jahren grau geworden und stellenweise abgeblättert. Darunter befand sich ein Stauraum, in dem Jarmulkes, Haggadot und anderes Seder-Beiwerk wild durcheinander lagen. Setzte man sich zwischen ein paar große Topfpflanzen auf der Fensterbank, hatte man einen guten Blick auf die übrigen Gäste. Zur Rechten lag der kleine Kamin mit seiner Umrandung aus dunkelgrünen Kacheln. Früher, als man in englischen Häusern noch mit Kohle heizte, war dies eine praktische Feuerstelle gewesen, unverzichtbar in den kalten, klammen Londoner Wintern. Zu der Zeit, als ich auf der Bildfläche erschien, war der Kamin jedoch längst von einer Zentralheizung abgelöst worden und kaum noch zugänglich, weil auf einem Tisch davor ein alter Plattenspieler, ein Radio und eine Stereoanlage mit Tonbandgerät ihren Platz hatten; außerdem standen zwei weitere große Topfpflanzen mit samtenen dunkelgrünen Blättern zu beiden Seiten Wache.
Chimen und Mimi mochten Musik, doch sie verstanden nicht viel davon. Wenn sie eine Platte auflegten, sagte ihnen Klassisches am ehesten zu – Sinfonien von Beethoven, Kammermusik von Mozart, hin und wieder eine Oper –, aber sie hat- ten auch ein Faible für jiddische Volksmusik. In Chimens Sammlung befanden sich zahlreiche Originalmanuskripte von Welwel Zbarzher, einem im 19. Jahrhundert lebenden galizischen Juden, der in der Jewish Encyclopedia als „wahrer Volksdichter“beschrieben wird, sowie sämtliche veröffentlichten Werke. Es war eine einzigartige Zbarzher-Fundgrube, mit der es nichts und niemand aufnehmen konnte, nicht einmal die Hebräische Universität in Jerusalem. Zbarzher hieß eigentlich Benjamin Wolf Ehrenkranz, doch wie ein gewisser Robert Zimmerman hundert Jahre später meinte er, dass seine Musik ein flotter klingendes Pseudonym benötigte. Und so wurde ein Künstler geboren, den wir uns im Rückblick als galizischen Bob Dylan vorstellen können. Zbarzher schrieb jiddische Gedichte, die er häufig zu Musikbegleitung vortrug, seine Themen waren Liebe und Verlust, soziale Ungerechtigkeit und religiöse Intoleranz. Als Anhänger der jüdischen Aufklärung machte er sich gern über seine chassidischen Nachbarn lustig und verfasste spöttische Texte über ihren Glauben, im Besitz der verborgenen Wahrheit zu sein, weshalb die Leistungen der Wissenschaft mitten im Zeitalter des technologischen Wandels angeblich keinen Pfifferling wert seien.
Irgendwann verliebte sich der galizische Troubadour in eine Frau, die als Malkele die Schöne bekannt war, und zog nach Istanbul, wo er 1883, im selben Jahr wie Marx, starb. Zbarzhers Geschichte endete sechs Jahre nachdem Thomas Edison den Phonographen erfunden hatte, und bedauerlicherweise hinterließ er keine Aufnahmen.
(Fortsetzung folgt)