„Sie waren auf Rache aus“
che Kugel kam. „Es war nur ein Wort: ,Warum?’ Wir haben uns angestarrt wie vor einem Boxkampf im Ring, Nasenspitze an Nasenspitze. Irgendwann hat er sich umgedreht und ist weitergelaufen“, schildert er die Szene. Haeberle hat weitergearbeitet an diesem Tag, heute spricht er von einem irrealen Ausnahmezustand, bei dem er funktioniert habe wie ein Roboter. Hinzu kam ein Gefühl ohnmächtiger Hilflosigkeit: „Ich wusste, hier läuft etwas völlig aus dem Ruder. Aber wäre ich heute noch am Leben, wenn ich versucht hätte dazwischenzugehen?“
Ron Haeberle sitzt an einem Glastisch in seinem Wohnzimmer und schildert das Geschehene mit einer Präzision, der man anmerkt, dass sich jedes Detail tief in sein Gedächtnis eingebrannt hat. Er bleibt nüchtern, auch wenn er nach Gründen für den Blutrausch sucht: „Im Krieg passieren solche Sachen. Sie werden immer wieder passieren.“Medinas Kompanie habe zuvor empfindliche Verluste erlitten. „Sie waren auf Rache aus. Nur darum ging es, es ging um Revanche.“
Calley habe am hemmungslosesten gemordet, wohl auch, weil er seinem Vorgesetzten imponieren wollte, jenem Captain Medina, der ihn des Öfteren vor versammelter Mannschaft gedemütigt hatte. Zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt, kam er nach einem revidierten Richterspruch und drei Jahren Hausarrest auf freien Fuß.
Der drahtige Haeberle, inzwischen 76 Jahre alt, lebt bei Cleveland. Irgendwann wischt er über sein iPad, um nach einem alten Zeitungsartikel zu suchen. „USTruppen umzingeln Rote, tö- ten 128“, steht über dem Bericht. In Wahrheit starben 504 Dorfbewohner. Es war der Ton, der damals noch die amerikanische Presse beherrschte. Als die Charlie Company nach My Lai beordert wird, soll Haeberle beruhigende Motive liefern.
In dem Dorf wagt nur einer den Opfern zu helfen, der Helikopterpilot Hugh Thompson. Er landet zwischen den Soldaten und den Zivilisten, dann fordert er über Funk Hilfe für die Verletzten an. Während der Rettungsaktion halten Thompsons Bordschützen, Glenn Andreotta und Larry Colburn, mit ihren schweren Waffen die eigenen Leute in Schach. Als Haeberle ins Basislager zurückkehrt, muss er seine Dienstkamera abgeben. Seine persönliche aber darf er behalten. Er bleibt noch zwei Wochen in Vietnam, dann ist der Krieg für ihn vorüber. Weder verfiel er seither in Depressionen noch schreckte er nachts aus dem Schlaf. Haeberle ist kein Grübler, so sagt er selbst.
Damals zögerte er, ehe er mit den Bildern an die Öffentlichkeit ging. Obwohl er um ihre Brisanz wusste: „Ich hatte Beweise für ein Kriegsverbrechen, das war mir klar.“Erst im Sommer 1969 kreuzt ein Ermittler der Army auf. Später meldet sich Haeberle bei der Zeitung „Plain Dealer“in Cleveland. Ende 1969 erscheinen seine Fotos erst dort, dann im Magazin „Life“. Mehrere Aufnahmen, die die Täter in Aktion zeigen, hat er aus einer Art Solidarität heraus zerstört. Doch auch die Fotos der Opfer verfehlen ihre Wirkung nicht.
Mit einem der Kinder auf den Bildern steht Haeberle in Kontakt, vermittelt durch Christoph Felder, einen Kölner Dokumentarfilmer. Duc Tran Van ist der Sohn jener Frau, die tot neben ihrem Strohhut liegt. Haeberle hat auch ihn fotografiert, als sich der Junge vor Haeberles heranknatterndem Hubschrauber wegduckt, seine 14 Monate alte Schwester mit seinem Körper schützend.
Die Schreie und Schüsse und die Blutlachen verfolgen den Mann, der nach einer Ausbildung zum Textilschlosser in der DDR heute in Remscheid lebt. Er erinnert sich an kleinste Details: „Ein Soldat riss so heftig an meiner Mutti, dass die Knöpfe von ihrer Kleidung absprangen.“Die 32-Jährige wird in Bauch und Beine geschossen, schafft es aber, Duc und seine Schwester Ha zu verstecken, halb unter ihrem Strohhut und halb unter ihrem eigenen Körper. Mit ihren letzten Atemzügen erklärt sie Duc, er müsse tapfer sein und mit Ha zur Großmutter fliehen. Sofort, und ohne sich noch einmal umzudrehen.
Der dünne Bursche schafft es und schlägt sich nach dem Tod seines Vaters, eines Arztes bei der Nordvietnamesischen Armee, als Vollwaise durch. Später muss er erfahren, dass die Massenmörder straffrei bleiben. Das ist das zweite Trauma, unter dem er leidet.
Das dritte ist sein andauernder Streit mit den Betreibern der Gedenkstätte vor Ort. Die hatten Namen und Alter seiner Mutter auf dem Mahnmal falsch geschrieben – Fehler, die Duc ins Mark treffen und die erst nach mehreren schriftlichen Beschwerden korrigiert wurden. Schlimmer noch: Der Museumsdirektor Pham Thanh Cong behauptet, anstelle von Duc sei er selbst auf Haeberles berühmtem Foto zu sehen. Sowohl Duc als auch Haeberle verneinen das. Ihre Erinnerungen an die Szene stimmen überein. Der Museumschef indes verstrickt sich immer wieder in Widersprüche. Duc sagt: „Er lügt, damit Besucher ihm Anerkennung zollen und Geld spenden.“Ihm selbst sei als Kind verwehrt worden, die Gedenkstätte zu betreten, weil er den Eintritt nicht bezahlen konnte.
Haeberle hat 2013 angeregt, eine Konferenz zu organisieren, um alle Streitpunkte beizulegen. Erfolglos.
In dem Haus, in dem Duc mit seiner Frau und den drei gemeinsamen Söhnen lebt, steht ein Schrein. Räucherstäbchen stehen darauf und Opfergaben, das Foto, das die Leiche seiner Mutter zeigt, und die Kamera, mit der es gemacht wurde. Der damalige Fotograf in der Uniform des Feindes hat sie dem Jungen mit der Todesangst von einst geschenkt. Heute sind sie Freunde.