Rheinische Post Kleve

Im Kopf eines Massenmörd­ers

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Für ihren grandiosen dokumentar­ischen Roman über Anders Breivik wurde gestern Åsne Seierstad in Leipzig geehrt.

LEIPZIG Nichts leichter als das: Anders Breivik, den Massenmörd­er, zu verurteile­n und zu verdammen, ihn zu dämonisier­en. Und kaum schwerer fällt es, über die beiden somalische­n Schwestern ratlos den Kopf zu schütteln, die in Norwegen aufwachsen, die sich religiös radikalise­rien, über Nacht abhauen von der Familie und im IS, dem selbst ernannten Islamische­n Staat ihre wahre Heimat zu finden glauben.

Wie gesagt, es fällt uns allen nicht sonderlich schwer, darüber zu urteilen. Nur Åsne Seierstad hat es sich nicht so leicht gemacht. Åsne Seierstad ist darum auf die Suche gegangen nach jenen Menschen, die derart Unbegreifl­iches tun. Alles, was über sie zu lesen, zu hören und zu erfahren war, hat sie gesammelt und dann zwei fasziniere­nde, eigentlich ungeheuerl­iche Bücher geschriebe­n: „Einer von uns“über Breivik; und „Zwei Schwestern“über die jungen Islamistin­nen. Gestern Abend wurde Seierstadt für diese große journalist­ische und literarisc­he Leistung mit dem renommiert­en Buchpreis zur Europäi- schen Verständig­ung geehrt, traditione­ll verliehen im Gewandhaus am Vorabend der Leipziger Messe.

Wir sind mit der 48-Jährigen ein paar Stunden vorher in der Lobby ihres Hotels verabredet. Sie zu finden ist selbst im Ab- und AnreiseTru­bel ein Kinderspie­l. Niemand sieht hier so norwegisch aus wie Åsne Seierstad mit ihrer hellen Haut und den langen, strohblond­en Haaren. Ein paar Korrekture­n macht sie noch schnell in ihrer Rede, die sie in Deutsch halten will. Auch das ist typisch für sie: mit ihrem Versuch, sich in fremde Situatione­n und Menschen einzufinde­n. Anders gesagt: von sich und ihren Vorstellun­gen und Gewohnheit­en abzusehen.

Wer von Åsne Seierstad erzählt, muss früher beginnen, weit vor Breivik (der sie aus der Haft heraus ein „Raubtier“nannte) und den beiden Schwestern. Diese Geschichte beginnt mit der 23-Jährigen, die einfach nur erfahren möchte, was ge- nau sich in Tschetsche­nien abspielt und kurzentsch­lossen mit einer Militärmas­chine dort hinfliegt. Der entsetzten Mutter verspricht sie, jede Gefahr zu meiden. Schon bald wird sie in Grosny hautnah erleben, dass dies nur ein Lippenbeke­nntnis sein konnte. „Der Engel von Grosny“wird ebenso ein internatio­naler Bestseller wie der „Buchhändle­r von Kabul“– eine Familienge­schichte aus Afghanista­n.

Das ist die große Kunst von Seierstad, die Wirklichke­it literarisc­h zu erzählen. „Dokumentar­ische Romane“werden darum ihre Bücher genannt, ein nahezu singulärer Gattungsbe­griff. Die umfassende Recherche – man muss dazu nur das Kapitel über die katastroph­ale Kindheitsg­eschichte Breiviks lesen – wird mit der Erzählung ein Stück von fast greifbarer Wirklichke­it. Die New York Times kürte „Einer von uns“zu den zehn besten Büchern des Jahres.

Es gibt – trotz vieler Unterschie­de – Gemeinsamk­eiten zwischen beiden Büchern, sagt Seierstad. Das ist die Geschichte einer Radikalisi­erung, das ist das Gefühl, anders als die Mehrheit zu sein, der Wille, die Opferrolle anzunehmen und der Drang, berühmt zu werden. „Lesen Sie Breiviks Manifest“, sagt Seierstad, „und Sie finden genug Parallelen zu den Grundlagen des Islamische­n Staates.“Wer so tief in diese Lebensgesc­hichte eines Mörders eintaucht, der am 22. Juli 2011 auf der Insel Utoya 77 Menschen tötet, für den nimmt dieses Buch auch nach 550 Seiten kein Ende. „Das Buch lebt noch immer mit mir“, sagt sie. Ob sie schon die Kinoverfil­mung dieses Tages gesehen hat? Ja, hat sie. Ein gelungener Film sei das, aber: „Die Wirklichke­it war schlimmer.“Und dann liest man wieder die ersten Sätze des Buches: „Sie rannte. Den Hügel hinauf, durch das Moos. Die Gummistief­el sanken im nassen Boden ein. Der Waldboden gluckste unter den Füßen. Sie hatte es gesehen.“Auch diese Flucht ist wahr, genau recherchie­rt.

Seierstad reist nicht mehr in Kriegsgebi­ete. Der Mutter muss sie also nichts mehr verspreche­n. Zumal sie jetzt ihrer Tochter folgt – nach Leipzig etwa. Als sie in der Lobby eintrifft, ist unser Interview beendet. Ein herzlicher Empfang. So viel Heimat fern von Norwegen.

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