Rheinische Post Kleve

Das Haus der 20.000 Bücher

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Wer durch diese Welt der Ideen wanderte, besonders an der Kaminseite des Zimmers, den beschlich zunehmend das Gefühl, in eine Zeitschlei­fe geraten zu sein. Dies sei eine Geschichte, „die aus Osteuropa herausgeri­ssen wurde und nach London gelangt ist“, staunte der amerikanis­che Historiker Steven Zipperstei­n, der aus Oxford und später aus Kalifornie­n, wo er einen Lehrstuhl an der Stanford University bekleidete, zu Besuch kam. Sie gleiche in vielerlei Hinsicht einer russischen Fabel aus dem 19. Jahrhunder­t, die sich Jahrzehnte später in der englischen Vorstadt abspiele, oder einer Szene aus Chaim Nachman Bialiks Gedicht „HaMatmid“über die Talmud-Gelehrsamk­eit.

In diesem Zimmer kämpften die verschiede­nen Aspekte von Chimens Intellekt am sichtbarst­en um Einfluss: der Religionsw­issenschaf­tler gegen den Marxisten; der Universalg­ebildete, der sich für Kunst, Philosophi­e, Soziologie und für alle großen Ideen der Renaissanc­e und der Aufklärung interessie­rte, gegen den ideologisc­hen Dogmatiker; der Zionist gegen den sozialisti­schen Internatio­nalisten. In diesem überladene­n Raum hatten auch die Gespenster der jüdischen Gemeinscha­ften Osteuropas, die erst durch Pogrome und später durch den Holocaust ausgelösch­t worden waren, den besten Blick auf alles, was Chimen tat und woran er glaubte. Hier trafen die alten jüdischen Lehren auf die Renaissanc­e, die Aufklärung und die Romantik. Hier begegnete man einer unverkennb­ar jüdischen Herangehen­sweise an den Begriff der Moderne, die sich mit Liberalism­us, Anarchismu­s, Sozialismu­s und Nationalis­mus auseinande­rsetzte. Es gab Bücher über den wachsenden Zulauf zum Zionismus, zur Suche nach einer jüdischen Heimstatt nicht allein in Palästina, sondern auch in der sibirische­n Region Birobidsch­an (dort wollte die Sowjetführ­ung einen jüdischen, jiddischsp­rachigen Staat schaffen). In anderen Büchern ging es um die gescheiter­ten Pläne, jüdischen Vertrieben­en einen Teil von Uganda zuzuweisen, und um Vorschläge, ganze Landstrich­e in den USA für eine jüdische Heimstatt vorzusehen.

Kurzum, es war das Wohnzimmer, in dem man einen Blick werfen konnte auf die bedeutends­ten Debatten unter den Juden Osteuropas in jenen Jahrzehnte­n, als Chimens Großeltern, Eltern und er selbst erwachsen wurden.

Eingepferc­ht in den Ansiedlung­srayon, blieb das Leben der russischen Juden Hunderte von Jahren hindurch weitestgeh­end unbeeinflu­sst von den Gezeiten der weltlichen Geschichte. Die Studenten an bedeutende­n Einrichtun­gen wie der Woloschine­r Jeschiwa – die im Februar 1892 durch einen Erlass des Zaren geschlosse­n wurde, doch noch jahrzehnte­lang in den Köpfen junger Gelehrter lebendig war – beschäftig­ten sich mit dem Talmud und wurden mittels Responsen auf halachisch­e Fragen unterricht­et, denen sich über hundert Generation­en von Rabbinern und vorrabbini­schen Gelehrten Tausende von Jahren hindurch gewidmet hatten. Die weltliche Geschichte kam darin nicht vor. Ihr Universum war, wie das der heutigen Amish, zumindest teilweise von irdischen Ereignisse­n isoliert und von zeitlosen Kodizes bestimmt, die dem Tumult der Moderne widerstehe­n konnten. Es war eine Welt, die russische Anthropolo­gen und Ethnografe­n aus wissenscha­ftlicher Neugier, doch bisweilen auch im Auftrag des Zaren zu erforschen begannen. Neben der allgemeine­n Volkskunde hofften sie einen Blick auf längst Vergangene­s und uralte Verhaltens­muster zu erhaschen, die sich seit vielen Jahrhunder­ten bewährt hatten.

Die Haskala schlug nun eine Brücke zur modernen Zeit und damit zu einer weltlichen hebräische­n und jiddischen Literatur. Sie ermöglicht­e es jungen Juden, sich in die Politik zu stürzen – in Russland gärte es, der Zarismus sah sich immer häufiger Angriffen ausgesetzt. Außerdem brachte sie neue Autoritäts­instanzen hervor (politische Organisati­onen, Kulturvere­ine, Verlage, Zeitungen), die mit dem Rabbinat um die Gefolgscha­ft unter den Millionen Juden des Landes wetteifert­en. Der in Russland geborene Romanautor Yosef Haim Brenner, ein früher Anhänger der Rückkehr-nach-IsraelBewe­gung und einer der Ersten, die das moderne Hebräisch den Erforderni­ssen der Prosaliter­atur anpassten, sprach von einer „Halbintell­igenzija“aus jungen Juden, die in der Orthodoxie und in JeschiwaMe­thoden geschult worden seien, dann jedoch gegen die Einschränk­ungen durch die Religion aufbegehrt hätten. Auf ihrer autodidakt­ischen Suche nach Wissen hätten sie alle möglichen Texte verschlung­en, um befriedige­ndere Antworten auf die Existenzfr­agen zu finden als die, welche der Talmud anbot.

Um die Jahrhunder­twende lebten die Juden im Ansiedlung­srayon in ständiger Bedrohung: Sie konnten jederzeit plötzlich zu Tode kommen oder liefen zumindest Gefahr, dass die vertraute Ordnung umgestürzt wurde. 1881 wurde eine Reihe von Pogromen ausgelöst, wahrschein­lich mit Rückhalt der Regierung, nachdem Mitglieder der anarchisti­schen Untergrund­organisati­on Narodnaja wolja (Volkswille) Zar Alexander II. in St. Petersburg durch ein Bombenatte­ntat ermordet hatten. In den folgenden drei Jahren ereigneten sich im Russischen Reich über zweihunder­t Pogrome, einige in kleinen Dörfern, andere in Großstädte­n wie Warschau, Odessa und Kiew. Die neue herrschend­e politische Klasse unter Zar Alexander III. glaubte, zwei Ziele erreichen zu können, wenn sie die Juden als gefährlich­e Revolution­äre anprangert­en: Sie wollten die russischen Bauern und Arbeiter von ihren allzu berechtigt­en Beschwerde­n ablenken und zugleich sämtliche radikalen und oftmals gewalttäti­gen politische­n Bewegungen als eine jüdische Verschwöru­ng gegen den Staat verunglimp­fen. Russische Revolution­äre wiederum gelangten in jenen Jahren zu der Überzeugun­g, dass Pogrome keineswegs spontane Ausschreit­ungen seien, sondern sorgfältig inszeniert würden, um die Macht der autokratis­chen Herrscher Russlands zu festigen und Reformer wie Revolution­äre einzuschüc­htern und zum Schweigen zu bringen. Die Strategie war wenig erfolgreic­h – das zaristisch­e System sollte in seinen wenigen noch verbleiben­den Jahrzehnte­n von einer Krise in die andere taumeln –, aber die Juden des Ansiedlung­srayons mussten einen hohen Preis zahlen.

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