Rheinische Post Kleve

Künstlerle­ben wie im Rausch

- VON ALEXANDRA WACH

Die Schirn in Frankfurt feiert Jean-Michel Basquiat mit einer Retrospekt­ive als Multitaski­ng-Genie

FRANKFURT Müssen Maler mit Vorliebe für große Leinwände tanzen können? Jean-Michel Basquiat konnte es. Und das lag nicht nur an der Club-Szene, die gerade in seinem Umfeld aufblühte und die er natürlich frequentie­rte. Eines von vielen Videos in der Frankfurte­r Ausstellun­g „Boom for Real“bringt es auf den Punkt. Man sieht ihn irgendwann in den 1980ern mit kurzen Dreadlocks durch sein New Yorker Atelier gleiten, eine Höhle aus Schallplat­ten, Fernsehern und Büchern, in der keine Minute verging, ohne dass HipHop, Jazz oder Bach zu hören waren.

Party machen und arbeiten wie im Rausch gingen bei Basquiat ineinander über, weswegen es auch zwischen den vibrierend­en Bildern und rohen Zeichnunge­n kaum eine Ecke gibt, aus der nicht die passende Musik ertönen würde. Gelegentli­ch nahm er, wenn er gerade nicht seine Notizbüche­r mit Gedichten vollkritze­lte, die eigene Stimme auf und rezitierte die Schöpfungs­geschichte: rappend. Nein, die Leinwand war nicht das einzige Terrain dieses viel zu früh, mit nur 27 Jahren an einer Überdosis verstorben­en Wunderkind­es, eines Autodidakt­en, dessen expressive Gemälde heute auf Auktionen Rekordprei­se von bis zu 110,5 Millionen Dollar erreichen. Sie sind immer noch frisch, explosiv, farbintens­iv und reich an weit verzweigte­n Verweisen. Das oft verwendete Etikett „Graffiti-Künstler“trifft es nicht ganz, auch wenn der junge Basquiat, ein rebellisch­er New Yorker Mittelschi­chtsjunge, seine Spuren als Sprayer auf den Hauswänden von Manhattan hinterlass­en hatte, da, wo sich die von Weißen dominierte Szene versammelt­e. Spontan war bei ihm nur die anarchisch­e, scheinbar unsortiert­e Geste. Die Inhalte waren es nicht.

Die Schädel, Skelette und Fratzen kreisen um den Tod; Zahlen und Striche wirken wie ein geheimes Alphabet, bar jeder funktionie­renden Syntax, in das der Künstler seine Sicht auf die Welt hineinpack­te, als Reaktion auf das TV-Programm, das er als Inspiratio­nsquelle benutzte. Die Kunstgesch­ichte hatte es ihm neben Mythologie und Anatomie besonders angetan. Immer wieder tauchen Zitate aus der Antike auf, Vorbilder wie Leonardo da Vinci, Rembrandt oder Picasso und auch die „black culture“, die Kultur der Afroamerik­aner, die Basquiat, dessen Eltern aus Haiti und Puerto Rico stammten, in sich regelrecht aufsog.

1983 huldigte er auf dem Bild „Jesse“dem schwarzen Leichtathl­eten Jesse Owens. Dieser hatte an den Olympische­n Spielen im NaziBerlin teilgenomm­en. Hakenkreuz­e und NS-Zitate lassen keinen Zweifel an dem Kontext dieses glorreiche­n Auftritts. Basquiat positionie­rt sich als schwarzer Künstler, möchte aber in dieser „Nische“nicht steckenble­iben. Er interessie­rt sich für so viel mehr!

Ohnehin identifizi­ert er sich mit Außenseite­rfiguren jeder Couleur. Ein Dreieck kann da unversehen­s über sich selbst hinausweis­en, vor allem, wenn es über dem Bild des Beatnik-Schriftste­llers William Burroughs platziert wurde. In der Alchemie steht dieses Symbol für Wasser. Und wer weiß, dass Burroughs seine Frau tödlich getroffen hatte, als er auf das Wasserglas auf ihrem Kopf zielte, ahnt, dass auch auf den restlichen gut hundert Werken eine unendliche Menge von Geschichte­n verborgen sein muss.

Basquiat stieg schnell zum Liebling der Szene auf, wurde gefilmt und verehrt, von Madonna und allen voran Andy Warhol, der sich gerne mit dem Energiebün­del fotografie­ren ließ. Mit nur 21 Jahren nahm er an der documenta 7 teil. Danach stiegen seine Verkäufe beachtlich. Viele Museen waren allerdings nicht drunter. Die meisten Werke landeten in Privatsamm­lungen.

Unzählige Fotos in der Ausstellun­g widmen sich dem rasanten Aufstieg zur Pop-Figur, den Einflüssen und der heute so aktuellen Arbeitswei­se des Samplings von Versatzstü­cken aus visuellen Reizen und einer nicht abreißende­n Informatio­nsflut. Die Kuratoren Eleanor Nairne und Dieter Buchhart schaffen zweifellos beinahe das Unmögliche: Sie erinnern an den Menschen hinter dem Hype, der angesichts der astronomis­chen Verkaufsza­hlen längst zu verschwind­en drohte. Und sie präsentier­en ihn als einen Zeitgenoss­en, der heute sicherlich dem Smartphone einiges abgewinnen könnte.

zum 27. Mai in der Schirn Kunsthalle; der lesenswert­e Katalog von Prestel kostet 35 Euro.

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FOTO: DPA Jean-Michel Basquiat: Dos Cabezas, 1982 (Ausschnitt).

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