Künstlerleben wie im Rausch
Die Schirn in Frankfurt feiert Jean-Michel Basquiat mit einer Retrospektive als Multitasking-Genie
FRANKFURT Müssen Maler mit Vorliebe für große Leinwände tanzen können? Jean-Michel Basquiat konnte es. Und das lag nicht nur an der Club-Szene, die gerade in seinem Umfeld aufblühte und die er natürlich frequentierte. Eines von vielen Videos in der Frankfurter Ausstellung „Boom for Real“bringt es auf den Punkt. Man sieht ihn irgendwann in den 1980ern mit kurzen Dreadlocks durch sein New Yorker Atelier gleiten, eine Höhle aus Schallplatten, Fernsehern und Büchern, in der keine Minute verging, ohne dass HipHop, Jazz oder Bach zu hören waren.
Party machen und arbeiten wie im Rausch gingen bei Basquiat ineinander über, weswegen es auch zwischen den vibrierenden Bildern und rohen Zeichnungen kaum eine Ecke gibt, aus der nicht die passende Musik ertönen würde. Gelegentlich nahm er, wenn er gerade nicht seine Notizbücher mit Gedichten vollkritzelte, die eigene Stimme auf und rezitierte die Schöpfungsgeschichte: rappend. Nein, die Leinwand war nicht das einzige Terrain dieses viel zu früh, mit nur 27 Jahren an einer Überdosis verstorbenen Wunderkindes, eines Autodidakten, dessen expressive Gemälde heute auf Auktionen Rekordpreise von bis zu 110,5 Millionen Dollar erreichen. Sie sind immer noch frisch, explosiv, farbintensiv und reich an weit verzweigten Verweisen. Das oft verwendete Etikett „Graffiti-Künstler“trifft es nicht ganz, auch wenn der junge Basquiat, ein rebellischer New Yorker Mittelschichtsjunge, seine Spuren als Sprayer auf den Hauswänden von Manhattan hinterlassen hatte, da, wo sich die von Weißen dominierte Szene versammelte. Spontan war bei ihm nur die anarchische, scheinbar unsortierte Geste. Die Inhalte waren es nicht.
Die Schädel, Skelette und Fratzen kreisen um den Tod; Zahlen und Striche wirken wie ein geheimes Alphabet, bar jeder funktionierenden Syntax, in das der Künstler seine Sicht auf die Welt hineinpackte, als Reaktion auf das TV-Programm, das er als Inspirationsquelle benutzte. Die Kunstgeschichte hatte es ihm neben Mythologie und Anatomie besonders angetan. Immer wieder tauchen Zitate aus der Antike auf, Vorbilder wie Leonardo da Vinci, Rembrandt oder Picasso und auch die „black culture“, die Kultur der Afroamerikaner, die Basquiat, dessen Eltern aus Haiti und Puerto Rico stammten, in sich regelrecht aufsog.
1983 huldigte er auf dem Bild „Jesse“dem schwarzen Leichtathleten Jesse Owens. Dieser hatte an den Olympischen Spielen im NaziBerlin teilgenommen. Hakenkreuze und NS-Zitate lassen keinen Zweifel an dem Kontext dieses glorreichen Auftritts. Basquiat positioniert sich als schwarzer Künstler, möchte aber in dieser „Nische“nicht steckenbleiben. Er interessiert sich für so viel mehr!
Ohnehin identifiziert er sich mit Außenseiterfiguren jeder Couleur. Ein Dreieck kann da unversehens über sich selbst hinausweisen, vor allem, wenn es über dem Bild des Beatnik-Schriftstellers William Burroughs platziert wurde. In der Alchemie steht dieses Symbol für Wasser. Und wer weiß, dass Burroughs seine Frau tödlich getroffen hatte, als er auf das Wasserglas auf ihrem Kopf zielte, ahnt, dass auch auf den restlichen gut hundert Werken eine unendliche Menge von Geschichten verborgen sein muss.
Basquiat stieg schnell zum Liebling der Szene auf, wurde gefilmt und verehrt, von Madonna und allen voran Andy Warhol, der sich gerne mit dem Energiebündel fotografieren ließ. Mit nur 21 Jahren nahm er an der documenta 7 teil. Danach stiegen seine Verkäufe beachtlich. Viele Museen waren allerdings nicht drunter. Die meisten Werke landeten in Privatsammlungen.
Unzählige Fotos in der Ausstellung widmen sich dem rasanten Aufstieg zur Pop-Figur, den Einflüssen und der heute so aktuellen Arbeitsweise des Samplings von Versatzstücken aus visuellen Reizen und einer nicht abreißenden Informationsflut. Die Kuratoren Eleanor Nairne und Dieter Buchhart schaffen zweifellos beinahe das Unmögliche: Sie erinnern an den Menschen hinter dem Hype, der angesichts der astronomischen Verkaufszahlen längst zu verschwinden drohte. Und sie präsentieren ihn als einen Zeitgenossen, der heute sicherlich dem Smartphone einiges abgewinnen könnte.
zum 27. Mai in der Schirn Kunsthalle; der lesenswerte Katalog von Prestel kostet 35 Euro.