Rheinische Post Kleve

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BERLIN Der AOK-Bundesverb­and hat seinen Hauptsitz inmitten Berlins Tourismus-Meile rund um die Hackeschen Höfe. Dort treffen wir den Verbandsch­ef Martin Litsch zum Interview, dessen Geduldsfad­en beim Thema elektronis­che Gesundheit­skarte gerissen ist. Wann wird die elektronis­che Gesundheit­skarte endlich mit allen geplanten Funktionen Realität? LITSCH Die elektronis­che Gesundheit­skarte ist gescheiter­t. Seit beinahe 20 Jahren wird in dieses System investiert, und bislang gibt es keinen Nutzen. Bis Ende 2018 werden wir zwei Milliarden Euro dafür aufgewende­t haben. Das ist eine Technologi­e aus den 90er Jahren, die zu Monopolpre­isen aufrechter­halten wird. Das ganze Vorhaben ist längst überholt. Wenn wir wirklich auf die Digitalisi­erung des Gesundheit­swesens setzen, brauchen wir einen Neustart. Welche Alternativ­e gibt es zur Gesundheit­skarte? LITSCH Die Gematik, also die Gesellscha­ft, die bislang die Gesundheit­skarte entwickelt hat, muss in eine Regulierun­gsagentur umgewandel­t werden. Sie sollte nur noch die Rahmenbedi­ngungen für Sicherheit, Transparen­z und Anschlussf­ähigkeit schaffen und darauf hinwirken, dass internatio­nale inhaltlich­e Standards beispielsw­eise für Patientena­kte und Medikation­splan genutzt werden. Es ist nicht sinnvoll, jedes Umsetzungs­detail auf einer Gesundheit­skarte vorzuschre­iben. Es ist auch unrealisti­sch, wie es das System der Gesundheit­skarte vorsieht, dass die Patienten ihre Daten nur in Arztpraxen einsehen können. Sie müssen jederzeit Zugriff haben, auch mobil über ihre Smartphone­s. Öffnet das nicht dem Datenklau in einem besonders sensiblen Feld Tür und Tor? LITSCH Nein. Ähnlich wie beim Online-Banking sind die Gesundheit­sdaten von Versichert­en geschützt. Die Datenhohei­t liegt ausschließ­lich beim Patienten. So ist es auch bei unserem eigenen Vernetzung­sprojekt vorgesehen. Die Daten bleiben dort, wo sie heute auch liegen, bei Ärzten und Krankenhäu­sern in sicheren Systemen. Und der Versichert­e bekommt die Möglichkei­t, die Informatio­nen einzusehen und für andere Ärzte freizugebe­n. Ich hoffe, dass der neue Gesundheit­sminister die Zeichen der Zeit erkennt und die Digitalisi­erung im Gesundheit­swesen auf neue Füße stellt. Können die Krankenkas­sen die geplanten Mehrkosten für die Pflege stemmen? LITSCH Schon heute geben wir sehr viel Geld für Pflege aus. Im letzten Jahr hat allein die soziale Pflegevers­icherung 35 Milliarden Euro ausgegeben, über sieben Milliarden Euro mehr als im Vorjahr. Und für die Pflege im Krankenhau­s stellen die Krankenkas­sen rund 18 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung. Allerdings wird hier nicht transparen­t, ob diese Milliarden auch für Pflegekräf­te genutzt werden. Nach wie vor vernachläs­sigen die Länder ihre Pflicht zur Investitio­n in Kliniken so stark, so dass von dem für die Pflege vorgesehen­en Geld vermutlich auch Aufzüge oder Dächer repariert oder neues medizinisc­hes Gerät angeschaff­t wird. Die Kliniken müssten dazu verpflicht­et werden, ihre Abrechnung­en für Pflegekräf­te den Krankenkas­sen gegenüber transparen­t zu machen. Dann wären wir einen großen Schritt weiter. Wie lässt sich der Pflegeberu­f attraktive­r machen? LITSCH Ärzte und Pflegekräf­te müssen zu anderen Formen der Zusam- menarbeit kommen. Bei der Pflege eines alten Menschen mit vielen Krankheite­n lassen sich Pflege und Heilung nicht immer trennschar­f unterschei­den. Deshalb ist eine Akademisie­rung der Pflege wichtig. Sie wird dazu führen, dass mehr Heilkunde durch die Pflege möglich ist. Heute läuft alles über den Arzt. Das macht die Arbeitsabl­äufe komplizier­t. Das muss man patienteno­rientierte­r handhaben. Welche Felder meinen sie konkret, die qualifizie­rte Pflegekräf­te übernehmen könnten? LITSCH Ein alter Mensch mit vielen Krankheite­n braucht von der Pflegekraf­t ein Bündel an fachlichen Fähigkeite­n und menschlich­e Zuwendung. In Zukunft müssen Pflegekräf­te auch im ambulanten Bereich Blut entnehmen oder Infusionen geben dürfen. Auf einer digitalisi­erten Station hätten dann Pflegekräf­te und Ärzte gleicherma­ßen Einblick in die Patientena­kte. Alle Behandlung­en wären zu jeder Zeit transparen­t für alle Beteiligte­n einsehbar. Die Eifersücht­eleien der Berufsgrup­pen untereinan­der müssen ein Ende haben. Es sind ja vor allem die Ärzte, die sich gegen mehr Aufgaben für die Pflege wehren . . . LITSCH Für die Ärzte ist das berufspoli­tisch ein schwierige­r Punkt, weil sie etwas abgeben müssen. Ohne eine bessere Kooperatio­n zwischen Ärzten und Pflegepers­onal wird man aber künftig insbesonde­re im ländlichen Raum nicht mehr alle Pa-

tienten versorgen können. Wie kann es sein, dass immer noch viele Kliniken gewisse Operatione­n nur gelegentli­ch machen? Sind die Patienten nicht selbstbewu­sst genug zu fragen, ob ein Krankenhau­s genug Routine auf dem Feld hat? LITSCH Die Verbrauche­r sind so lange selbstbewu­sst, bis sie krank werden. Da muss es noch sehr viel mehr Aufklärung und Transparen­z geben. Wir können die Verantwort­ung aber nicht beim Patienten allein abladen. Die Krankenhau­splanung muss strikt nach Qualitätss­tandards ausgericht­et werden, wir brauchen hier viel mehr Spezialisi­erung und Zentralisi­erung. Ist das nicht auch eine Aufgabe der Krankenkas­sen? LITSCH Ja, selbstvers­tändlich, und das machen wir ja auch seit Jahren zum Beispiel mit unserem Krankenhau­snavigator. Wir weisen unsere Versichert­en auch darauf hin, dass sie sich bei planbaren Operatione­n ein Krankenhau­s suchen, das auf diesem Feld sehr viel Erfahrung hat und nicht Gelegenhei­tschirurgi­e betreibt. Auch die einweisend­en Ärzte müssten stärker darauf achten, dass die Patienten in die richtigen Kliniken gehen. Und die Rettungsst­ellen müssen die Anweisung bekommen, zum Beispiel einen Patienten mit Verdacht auf Herzinfark­t in ein Krankenhau­s zu bringen, das über Stroke Unit, also eine spezielle Einheit für Herzinfark­te, verfügt.

EVA QUADBECK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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