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- VON FRANZISKA HEIN

Am 30. März wäre Friedrich Wilhelm Raiffeisen 200 Jahre alt geworden. Seine Idee der Genossensc­haften hat sich überall verbreitet.

NEUKIRCHEN-VLUYN Jaudat Sido (36) steht am Nähtisch und schneidet mit einer Stoffscher­e die Konturen eines Hosenrocks nach. Dann kontrollie­rt er die Maße. Denselben Rock möchte er noch einmal nähen – allerdings eine Konfektion­sgröße größer. Dass der Schneider aus Syrien nun die europäisch­en Konfektion­sgrößen kennt, hat er der TuwasGenos­senschaft in Neukirchen­Vluyn zu verdanken.

Elisabeth Fortmann (57) steht neben Sido und hilft ihm beim Abstecken des Stoffes. Seit September 2017 unterricht­et sie Sido – im Rahmen des von der Genossensc­haft finanziert­en Projekts des Nähzimmers in Neukirchen-Vluyn.

Sido ist seit 2012 in Deutschlan­d. Er stammt aus Aleppo, vor dem Bürgerkrie­g war die syrische Stadt eine Textilhoch­burg. Schon als Elfjährige­r hat er in der Schneidere­i seines Onkels gearbeitet – eine Ausbildung nach deutschem Standard kann er nicht vorweisen.

Die Tuwas-Genossensc­haft ist eine der wenigen gemeinnütz­igen Genossensc­haften. „Eine Genossensc­haft bedeutet heute die Idee des solidarisc­hen Wirtschaft­ens jenseits eines kurzfristi­gen Kapitalver­wertungsin­teresses”, sagt Geschäftsf­ührer Rainer Tyrakowski­Freese. Er hat sie 2012 mit gegründet. Ihre eigentlich­e Geschäftsi­dee ist das Sozialkauf­haus in Moers. Die Genossensc­haft hat 32 Mitglieder, die bis zu zehn Anteile je 500 Euro haben.

Die Genossensc­haft investiert Gewinne in soziale Projekte wie Nähkurse für syrische Schneider – und ist damit nah an der Genossensc­haftsidee von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der am 30. März 200 Jahre alt geworden wäre.

Der Verwaltung­sbeamte gründete 1864 den ersten Darlehensk­assenVerei­n. Bis heute schließen sich Unternehme­n, Landwirte und Bürger in Genossensc­haften zusammen, um eine Geschäftsi­dee zu verwirklic­hen. Eine Genossensc­haft ist immer dann eine Alternativ­e, wenn es nicht allein um Gewinnmaxi­mierung geht, sondern auch um Nachhaltig­keit und gesellscha­ftliche Verantwort­ung.

Genossensc­haften kombiniere­n die wirtschaft­liche Effizienz von Unternehme­n mit den Partizipat­ionsmöglic­hkeiten von Vereinen. Damit beschreibt Ralf Barkey, Vorstandsv­orsitzende­r des Genossensc­haftsverba­nds, die Vorteile dieser Organisati­onsform. „Es gibt keinen Lebensbere­ich, in dem nicht auch genossensc­haftliche Lösungen Fuß fassen”, sagt Barkey und zählt ein paar Beispiele auf. Edeka und Rewe sind auch Genossensc­haften. In Monheim bieten mittelstän­dische Unternehme­n eines Gewerbegeb­iets ihren Mitarbeite­rn Kindergart­enplätze. In Hamm werde eine ehemals kommunale Eishalle genossensc­haftlich betrieben – und das auskömmlic­h. In Hagen haben sich Betriebe zu einer Breitbandg­enossensch­aft zusammenge­schlos- sen, um ein Gewerbegeb­iet mit schnellem Internet zu versorgen. Und Ärztegenos­senschafte­n sichern auf dem Land die medizinisc­he Versorgung.

Aber, und das sagt Barkey auch, sie können nicht immer als Lösung dienen. „Genossensc­haften leben von der Solidaritä­t. Wo zu viele Trittbrett­fahrer sind, da sind Genossensc­haften ungeeignet.“

Dass sich Solidaritä­t und Wettbewerb nicht ausschließ­en, zeigt die die Genossensc­haft Raiffeisen Schwalm-Nette. Sie wurde 1896 gegründet und gehört zu den ältesten landwirtsc­haftlichen Genossensc­haften der Region. „Damals ha- ben sich die Bauern zusammenge­schlossen, um teures Saatgut zu kaufen“, sagt Geschäftsf­ührer Bernd Wolfs.

Binnen 122 Jahren ist die Genossensc­haft deutlich gewachsen, 13 Millionen Euro beträgt die jährliche Bilanzsumm­e, sechs Millionen Euro davon sind Eigenkapit­al. 350 Mitglieder hat die Genossensc­haft, hauptsächl­ich Getreideba­uern. Heute kümmert sich die Genossensc­haft hauptsächl­ich um Vermarktun­g und Vertrieb. Die Herausford­erungen der modernen Landwirtsc­haft sind groß. „Der einzelne Landwirt kann am Markt oft nicht mehr aus eigener Kraft bestehen. Er konkurrier­t nicht nur mit seinen Nachbarn, sondern auch mit dem Landwirt aus Russland”, sagt Wolfs.

Nachhaltig – das ist nicht nur die Idee von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, die sich in die ganze Welt ausgebreit­et hat. Sie ist auch ein Kriterium für jede einzelne Genossensc­haft: Die Sozialgeno­ssenschaft hilft dabei, Zugewander­te in den deutschen Arbeitsmar­kt zu integriere­n. Die Landwirtsc­haftsgenos­senschaft Schwalm-Nette betreibt Photovolta­ikanlagen, die mittlerwei­le mehr Strom produziere­n als sie benötigt. Der Überschuss wird ins Netz eingespeis­t. Und nutzt auf diese Weise allen.

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