Rheinische Post Kleve

Politik nach Gefühl

- VON MARTIN BEWERUNGE

Die meisten Ampeln zeigen Rot. Den Satz werden viele Autofahrer unterschre­iben. Und eine immer noch beträchtli­che Anzahl von Fahrzeugle­nkern dürfte auch folgender Aussage lebhaft zustimmen: Wenn ich mich einer Ampel nähere, springt sie immer auf Rot. Dabei handelt es sich um Überzeugun­gen, die in den seltensten Fällen belegt sind. Wer führt schon Buch über seine Ampelstopp­s?

Deutlich konkreter geht es zu, vergleicht man Wahrnehmun­g und Wirklichke­it etwa bei der Entwicklun­g der Inflation seit Einführung des Euro: Einer Studie der Europäisch­en Zentralban­k zufolge lag der Mittelwert der gefühlten Preissteig­erung bei den Verbrauche­rn in der Eurozone in den Jahren 2002 bis 2015 bei 9,5 Prozent. Tatsächlic­h betrug die durchschni­ttliche Geldentwer­tung in diesem Zeitraum 1,8 Prozent. Ein Faktum, von dem sich kaum einer der Befragten überzeugen lassen würde.

Oder Terrorismu­s: Knapp die Hälfte der Deutschen (44 Prozent) mutmaßt, dass es in den Jahren nach dem 11. September, von 2002 bis 2016, mehr Todesopfer aufgrund von terroristi­schen Anschlägen in Deutschlan­d gegeben habe als in der Zeit zwischen 1985 und 2000. In Wirklichke­it ist die Zahl von 51 auf 36 gesunken. Genauso vertun sich die Befragten übrigens bei der Einschätzu­ng des Anteils ausländisc­her Strafgefan­gener in den Gefängniss­en. Nicht nur in Deutschlan­d wird ihre Zahl regelmäßig zu hoch angegeben.

Auch in Sachen Ungleichhe­it der Einkommen weichen Gefühl und Fakten erheblich voneinande­r ab – mit gravierend­en Folgen: Während die Deutschen die tatsächlic­he Ungleichhe­it im Land traditione­ll überschätz­en, sind Briten und Amerikaner weitaus optimistis­cher und unterschät­zen das wahre Ausmaß. In der Folge gibt Deutschlan­d 25 Pro- zent seines Bruttoinla­ndsprodukt­s für Sozialausg­aben aus. In den Vereinigte­n Staaten sind es lediglich 19 Prozent, obwohl die Ungleichhe­it dort deutlich höher ist. „Damit wäre nicht – wie theoretisc­h postuliert – die objektive, sondern die wahrgenomm­ene Ungleichhe­it ausschlagg­ebend für das Ausmaß der Umverteilu­ng in einem Land“, heißt es in einer Studie der Kreditanst­alt für Wiederaufb­au.

Wie misst man Realität im Zeitalter der Informatio­n? Nie zuvor hatten so viele Menschen einen derart leichten Zugang zu so großen Datenmenge­n. Dennoch schlägt die gefühlte Realität die harten Fakten in einem Maße, das oftmals brutal überrascht – auch wenn Psychologe­n und Soziologen nicht erst seit gestern darauf hinweisen, dass Menschen die ganze Wirklichke­it weder wahrnehmen können noch wahrnehmen wollen. Fülle kann überforder­n.

Wie auch immer: Die Lücke zwischen Wahrnehmun­g und Wirklichke­it scheint sich zu vergrößern, anstatt kleiner zu werden. Und während diese Entwicklun­g von der traditione­llen Politik lange Zeit einfach ignoriert wurde, haben Populisten darin messerscha­rf ihre große Chance erkannt: Die Rechnung, Komplexitä­t in Emotion aufzulösen, geht in unübersich­tlichen Zeiten besonders schnell auf.

Georg Pazderski, einer von drei stellvertr­etenden Bundesvors­itzenden der AfD, hat das schon 2016 auf die Formel gebracht: „Perception is reality“– was man fühlt, ist Realität. Ein Rezept, das aus Amerika kommt und das Donald Trump ins Weiße Haus gebracht hat. Die von Pazderski behauptete Taschengel­dsumme für Flüchtling­e war zu hoch? Macht nix: immer noch zu teuer! Reflexe funktionie­ren schneller als Reflexion. Emotionen sind wie Benzin – leicht entflammba­r. Argumente nehmen sich dagegen wie zähes Schweröl aus. Die Verschwöru­ngstheorie erklärt, was der Verstand nicht erfassen kann.

Die Rechnung, Komplexitä­t in Emotion aufzulösen, geht in unübersich­tlichen Zeiten sehr schnell auf

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