Das Haus der 20.000 Bücher
Sie beschäftigten sich mit den Kernpunkten, die der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow 1956 in seiner „Geheimrede“(die in Wirklichkeit alles andere als geheim war) in aller Deutlichkeit angesprochen hatte, als er die entsetzlichen Verbrechen unter Stalins Herrschaft unverblümt zugab; auch machten sie ihrem Groll Luft, als das Exekutivkomitee der britischen Kommunistischen Partei versuchte, Kritik, die daraufhin geäußert worden war, zu ersticken. R. Palme Dutt, der führende Parteitheoretiker und Chimens Freund aus den Kriegsjahren, hatte sich nicht einmal gescheut, Chruschtschows Enthüllungen als „Sonnenflecke“abzutun.
Saville und Thompson beharrten auf ihrem Recht, anderer Meinung zu sein. Die Partei, die nur absoluten Gehorsam gegenüber ihren Direktiven kannte, war alles andere als erfreut. In einer Reihe von Briefen, deren Ton an Schärfe zunahm, befahl das Exekutivkomitee Saville und Thompson, die Veröffentlichung einzustellen. Außerdem sollten sie vor dem Politischen Komitee erscheinen, um sich für ihr Vergehen zu rechtfertigen und zu bestätigen, dass die Partei „wegen ihrer Einsatzbereitschaft und der Ergebenheit ihrer Mitglieder von jeder anderen Arbeiterorganisation beneidet“werde. Während die von Chruschtschow geschilderten Gräuel Menschen auf der ganzen Welt erschaudern ließen – und während Kommunisten überall im Westen einräumen mussten, dass die kritischen Äußerungen über die Sowjetunion, die sie so lange als kapitalistische Propaganda zurückgewiesen hatten, größtenteils der Wahrheit entsprachen –, fragte der Generalsekretär der britischen Partei die beiden Historiker unbekümmert: „Könnt ihr unsere innerparteiliche Demokratie ernsthaft mit der irgendeiner anderen Organisation vergleichen? Meint ihr tatsächlich, anderswo eine bessere Partei zu finden?“Da die Partei sich unablässig Anfeindungen von außen erwehren müsse, könne sie keinen Widerspruch dulden – zu dieser Ansicht gelangte Pauline Harrison, Molekularbiologin und Ehefrau von Royden Harrison, einem weiteren aufsässigen Historiker. Wer es wagte, seinen eigenen Weg zu gehen, unabhängig zu denken, gar Kritik zu üben, den zensierten die Parteiführer umgehend, oder, schlimmer noch, sie schlossen ihn aus. Die einstigen Freunde und Genossen weigerten sich dann, mit dem Betreffenden zu sprechen oder auch nur seine Existenz anzuerkennen. „Ich würde es nicht unbedingt als Kult bezeichnen“, bemerkte Pauline trocken, sechsundfünfzig Jahre nachdem sie aus der Partei ausgetreten war, „aber es war eine sehr straffe Organisation. Es gab einen Kurs, dem man zu folgen hatte.“Nicht willens, die gewundene Logik der Partei zu akzeptieren, verbittert angesichts der Schreckenstaten, empört über den sowjetischen Einmarsch in Ungarn, der kurz nach Chruschtschows Rede erfolgte, und angewidert von dem autoritären Umgang der Partei mit intellektuellem Dissens in Großbritannien gaben Thompson und Saville ihre Mitgliedschaft auf. Ein paar Monate vor seinem Ausscheiden schrieb Thompson, das Exekutivkomitee der Partei werde, sollte es je in Großbritannien an die Macht kommen, unverzüglich viele Freiheiten zerstören, die man bedachtsam über dreihundert Jahre hinweg gepflegt habe. – In demselben Zeitraum folgten Mimi, ihre Schwestern, Raph, mehrere ihrer Cousinen und Cousins sowie etliche enge Freunde Savilles und Thompsons Beispiel und flohen aus der Partei. Fast vierzig Jahre später schrieb Mimi mir allerdings, dass sie das Wort „fliehen“in diesem Zusammenhang unpassend finde. „Menschen ,fliehen’, wenn sie vom Terror bedroht werden“, erklärte sie. „Die Menschen, um die es hier geht, genossen ein Mindestmaß an Freiheit. Sie verließen die Partei, weil sie nicht mehr glaubten, dass die Kommunisten ihre Überzeugungen verkörperten.“Ich habe jedoch den Eindruck, dass „fliehen“an dieser Stelle ein durchaus angemessenes Wort ist. Als sie gezwungenermaßen in das wahre Gesicht der Sowjetunion blicken mussten, erschauderten sie auch beim Gedanken an ihre eigene Mittäterschaft. „In der Sowjetunion und den neuen Demokratien wurden Verbrechen verübt, deren Art und Weise (physische und psychische Folter der niederträchtigsten Art, Terror gegen Verwandte und Freunde von Opfern, Deportation ganzer Nationen etc.) und Resultate (Falschanklage und Ermordung von Hunderttausenden, Inhaftierung von Millionen ehrlicher Kommunisten und Anhänger des Sozialismus, sogar herausragender Kämpfer für unser Anliegen) zu den schlimmsten gehörten, die die Welt je gesehen hat“, schrieb Mimis Schwester Minna ihrem Partei-Ortsverein am 22. Mai 1957 als Begründung für ihren Austritt. „Ich weiß, dass die meisten Mitglieder auf allen Ebenen nicht nur im Kern sehr gute Menschen sind, sondern sich auch dazu verpflichtet haben, auf die Verbesserung der Menschheit hinzuarbeiten. Es hat mich bis ins Mark er- schüttert, dass sie sich nicht scheuen, mit relativem Gleichmut Massenmord, Folter und unsägliche Verbrechen hinzunehmen, die in ihrem Namen an ihren eigenen Genossen begangen werden.“
Im Jahr darauf teilte der italienische Verleger Giangiacomo Feltrinelli (der den russischen Schriftsteller Boris Pasternak in einem langen Briefwechsel ermutigte, sich den Bestrebungen der Sowjetbehörden zu widersetzen, die die russischsprachigen Ausgaben seines Romans Doktor Schiwago verbieten wollten, und der 1957 eine italienische Übersetzung des Meisterwerks publiziert hatte) Chimen niedergeschlagen mit, dass dies „eine sehr schwierige Zeit [sei] für alle aufrichtigen Sozialisten und Kommunisten und für jeden, der uneingeschränkt darauf vertraue, dass die bedeutenden Lehren von Marx und Engels umgesetzt werden können“. Intoleranz und Dogmatismus, fuhr Feltrinelli fort, würden „den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft erheblich verlangsamen“.
Unerklärlicherweise blieb Chimen noch zwei weitere Jahre in der Partei. Es fiel ihm schwer, die Scheuklappen abzulegen, die seit so vielen Jahren fester Bestandteil seines Lebens waren. Er muss gelähmt vor Angst gewesen sein, wenn er daran dachte, wie er die Welt wohl ohne sie wahrnehmen würde; verstört wie ein Blinder, der endlich gelernt hat, sich in seiner lichtlosen Welt zurechtzufinden, und dann erfährt, dass eine Operation sein Augenlicht möglicherweise wiederherstellen könne. „Die Menschen wollten so sehr an diese idealistische Zukunft glauben“, kommentierte Pauline Harrison.
(Fortsetzung folgt)