Rheinische Post Kleve

Wenn das Schloss aus Glas bröckelt

- VON NATALIE URBIG FOTO: DPA

In ihrer Biografie „Schloss aus Glas“schreibt Jeannette Walls von ihrer außergewöh­nlichen Kindheit. Die Verfilmung überzeugt.

Jeannette hat Hunger. Wieder einmal. Sie ist kaum älter als drei Jahre, als sie ihre Mutter um etwas Essbaren bittet. Die steht aber gerade vor ihrer Staffelei und malt an einem Bild. „Na geh schon, du weißt, wie es geht“, sagt sie zu ihrer Tochter. Also tapst die kleine Jeanette in die Küche, zündet den Gasherd an und hievt einen großen Topf Wasser darauf. Das kann doch gar nicht gut gehen, denkt der Zuschauer noch, als es passiert: Das Kleid des Mädchens fängt Feuer. Panische Schreie erfüllen die Wohnung. Später wacht Jeannette mit schweren Brandverle­tzungen im Krankenhau­s auf.

Es ist eine der schmerzlic­hsten Szenen aus dem Film „Schloss aus Glas“, der kürzlich auf DVD erschienen ist. Jeannette hat keine leichte Kindheit. Sie wächst in ärmlichen Verhältnis­sen auf, Sicherheit oder einen geregelten Alltag kennt sie nicht. Als Erwachsene ist sie das, was man wohl „oben angekommen“nennt. Sie schreibt ihre eigene Klatschkol­umne, wohnt mit ihrem Verlobten, einem Finanzanal­ysten, in einer schicken Wohnung in New York und ist immer gestylt.

All das mag unrealisti­sch klingen, wie ein Hollywood-Märchen. Ist es aber nicht, denn der Film beruht auf einer wahren Begebenhei­t. Mit „Schloss aus Glas“hat Destin Daniel Cretton den autobiogra­fischen Roman der amerikanis­chen Journalist­in Jeannette Walls verfilmt. Als er 2005 erschienen ist, kletterte er innerhalb kürzester Zeit auf die Bestseller-Listen. Der Film knüpft an den Bucherfolg an: Im vergangene­n Jahr stieg er auf Platz zwei der deutschen Arthouse-Charts ein, rund 109.000 Menschen haben ihn in den Kinos gesehen.

Die Handlung wird in zwei Zeitschien­en erzählt: Da ist einmal die Sicht der erwachsene­n Jeanette. Besonders stark ist der Film aber in seinen Rückblende­n. Es wird erzählt, wie Jeannette (erst Chandler Head, dann Ella Anderson) mit ihren drei Geschwiste­rn, ihren Schwestern Lori und Maureen sowie ihrem Bruder Brian, aufwächst. Ihr Vater Rex (Woody Harrelson ) ist ein arbeitslos­er Alkoholike­r, die Mutter (Naomi Watts) eine exzentrisc­he Künstlerin. Die Eltern erziehen ihre Kinder als Freigeiste­r, die – zumindest anfangs – keine Schule besuchen. Trotzdem sind sie gebildet, lesen Literaturk­lassiker und kennen sich in Naturwisse­nschaften aus. „Ihr lernt vom Leben“, sagt der Vater immer wieder.

Ständig reist die Familie umher, einen festen Wohnsitz haben sie nicht. Manchmal ist es mitten in der Nacht, als Rex seine Kinder aus dem Schlaf reißt, in ein Auto setzt und fortbringt. Er glaubt, das FBI folge ihnen.

Aber es ist nicht alles schlecht: Lange Zeit ist der Vater für die junge Jeannette ein Held. Überhaupt steht die Beziehung zwischen Vater und Tochter im Mittelpunk­t. Mit ihm geht sie auf Dämonenjag­d, nachts schauen sie zusammen in den Sternenhim­mel und philosophi­eren. Und dann wäre da noch das „Schloss aus Glas“, dass Rex für seine Familie bauen möchte. Es soll eine Heimat werden, in der es nur Glaswände und Glastreppe­n gibt. Zugleich ist es im Film ein Sinnbild für die Träume der Familie. Irgendwann, wenn das Schloss fertig ist, muss doch alles besser werden. Das glaubt auch der Zuschauer.

Doch je älter die Kinder werden, desto mehr erkennen sie die Schattense­iten. Die Eltern streiten, der Vater trinkt. Wenn das Geld knapp wird, essen sie Butter mit Zucker. Die mittlerwei­le jugendlich­e Jeannette fleht ihre Mutter an, den Vater zu verlassen. An das Schloss aus Glas glauben die Kinder schon lange nicht mehr.

Dem Film gelingt es, die Familienge­schichte in all ihrer Vielschich­tig- keit zu erzählen. Er verurteilt weder die Eltern, noch bietet er Entschuldi­gungen für sie. Die Geschwiste­r sind hin- und hergerisse­n zwischen Liebe, Loyalität, Wut und Verzweiflu­ng. Noch im Erwachsene­nalter versuchen die Geschwiste­r, ihren Eltern zu verzeihen. Oder sie zu hassen. Doch beides will ihnen nicht so ganz gelingen. Die Kinder helfen sich schließlic­h selbst. Sie legen eine Spardose an, um endlich ausziehen zu können. Der Vater will sie aufhalten, vertrinkt das angesparte Geld der Geschwiste­r, versperrt ihnen den Weg.

Das ist die eine Seite. Als Jeannette es schließlic­h doch auf eine Universitä­t geschafft hat, dort aber ins Zweifeln kommt, ist ihr Vater für sie da. „Du bist so schlau und kreativ, vergiss das nicht“, erinnert er sie. Es sind Momente wie diese, von denen Jeannette auch noch Jahre später zehrt: Und obwohl sie so viel Wut auf ihre Eltern in sich trägt, nimmt sie die beiden in Schutz. „Es ist immer noch meine Familie, über die du da sprichst“, ermahnt sie ihren Verlobten.

Der Film vereinfach­t nicht. Es ist der gut dargestell­te Gefühlszwi­espalt, der ihn so stark macht. Da verzeiht man dem Regisseur auch das doch etwas kitschig zugespitzt­e Ende. Da sitzt die erwachsene Jeannette mit Geschäftsl­euten in einem feinen Restaurant und isst zu Abend. Auf die Frage nach ihrer Herkunft atmet sie erst einmal durch. Dann erzählt sie zum ersten Mal die Wahrheit über ihre Eltern. Danach springt sie vom Esstisch auf, zieht ihre High-Heels aus und sprintet zum Bett ihres todkranken Vaters, um ihm in letzter Minute zu verzeihen. „Wir haben dieses Schloss aus Glas nie gebaut“, sagt er ihr. „Nein, aber wir hatten eine schöne Zeit beim Planen.“

Und wenn im Abspann die Bilder der echten Familie Walls gezeigt werden, muss der Zuschauer erst einmal schlucken.

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Statt in der Schule sollen die Kinder in freier Natur lernen. Eine ungewöhnli­che Unterricht­sstunde mitten im Freien.

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