Eine Mordwelle überrollt London
Seit Jahresbeginn wurden schon mehr als 50 Menschen umgebracht. Viele sehen die Schuld dafür in der Sparpolitik der Regierung.
LONDON (ap) Freunde sagen, Israel Ogunsola sei ein temperamentvoller junger Mann gewesen, der andere gern zum Lachen gebracht habe. Anfang April wurde der 18-Jährige erstochen. Er war damit schon das 53. Mordopfer in London in diesem Jahr. Zwölf der Toten waren Teenager wie auch viele der mutmaßlichen Täter. Zum Teil handelte es sich um Kämpfe zwischen rivalisierenden Banden. Doch das ist wohl nicht die einzige Erklärung für die ausufernde Gewalt.
„Ich kann es noch immer nicht glauben. Ich verstehe nicht warum“, sagt die 19-jährige Nella Panda, während sie sich hinter einer Polizeiabsperrung stehend noch einmal den Tatort im Stadtteil Hackney anschaut. „Er hat sich mit allen gut verstanden.“Ein Sanitäter hatte noch versucht, Ogunsola zu retten. Aber etwa 25 Minuten nach den Einstichen konnte er nur noch den Tod des jungen Mannes bestätigen.
Sollte die Mordrate in den kommenden Monaten nicht wieder sinken, könnte es für London eines der blutigsten Jahre seit der Jahrtausendwende werden. Die Zahl von insgesamt 130 Morden im Jahr 2017 wäre bald überschritten. In diesem Februar und März wurden in London erstmals sogar mehr Menschen getötet als in New York, wo die Kriminalität zuletzt deutlich zurückgegangen ist.
Polizisten und Sozialarbeiter in London sehen die Morde zum Teil im Zusammenhang mit einem Kampf um die Kontrolle über den Drogenhandel. In einigen Fällen wurden die Opfer offenbar gezielt angegriffen. In anderen Fällen waren sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort – so etwa die 17jährige Tanesha Melbourne, die aus einem vorbeifahrenden Auto heraus erschossen wurde, während sie mit Freunden unterwegs war.
Die Verantwortlichen in der Stadt schieben sich gegenseitig die Schuld dafür zu, dass die Lage auf den Straßen derart eskalieren konnte. Einige kritisieren die Politik des Bürgermeisters Sadiq Khan, der für die Metropolitan Police zuständig ist. Der aber verweist darauf, dass die Polizei ihr Budget zum größten Teil von der Regierung erhält. Und die hat bei den Sicherheitskräften der Stadt seit 2010 finanzielle Kür- zungen von mehr als 20 Prozent vorgenommen. Die konservative Regierung hat aber nicht nur bei der Polizei den Rotstift angesetzt, sondern auch bei den kommunalen Verwaltungen. Jugendclubs und Bibliotheken mussten daher schließen. Soziale Angebote für Jugendliche mussten gestrichen werden. „Seit ich Bürgermeister bin, sage ich der Regierung, dass es nicht nachhaltig ist, in dem Ausmaß zu sparen, wie sie es in London tut“, sagte Khan. Die steigende Kriminalität sei eine nationale Herausforderung. „Ich kann das nicht alleine lösen.“
Doch Geld ist nicht das einzige Problem. Kritiker betonen, dass die Verbrechensbekämpfung schwieriger geworden sei, weil die Regierung die Möglichkeiten der Polizei zur Überprüfung von Verdächtigen beschränkt habe – eine Entscheidung, die die heutige Premierministerin Theresa May traf, als sie noch Innenministerin war. Die Londoner Polizeichefin Cressida Dick macht auch die Verbreitung Sozialer Medien für die Gewalt verantwortlich. Über diese Kanäle könne ein Streit leicht eskalieren, sagt sie. Junge Menschen, die nur etwas wütend aufeinander seien, gingen dadurch viel schneller aufeinander los.
Der Labour-Abgeordnete David Lammy, in dessen Wahlkreis Tottenham im Norden Londons in diesem Jahr schon vier Menschen getötet wurden, gibt vor allem den Drogenhändlern die Schuld. „Überall gibt es Drogen“, sagte er. Man könne sie inzwischen bestellen wie Pizza. „Du bekommst sie über Snapchat oder über WhatsApp. Das ist es, was die Revierkämpfe befeuert und die Kultur der Gewalt befördert.“
Der ehemalige Polizist John Carnochan hat eine solche Entwicklung schon anderswo erlebt und Lösungen dagegen gefunden. Anfang des Jahrtausends war das schottische Glasgow die Mord-Hochburg des Landes. Carnochan war 2005 dort Mitbegründer der „Violence Reduction Unit“. Diese Einheit betrachtete die Gewalt als gesellschaftliches Problem und nicht ausschließlich als Verbrechen von Einzelnen. In Glasgow arbeiteten Polizisten Seite an Seite mit Lehrern, Sozialarbeitern und anderen Beteiligten, um das Problem bei der Wurzel zu packen. Die Zahl der Morde in der Stadt konnte von 2005 bis 2015 auf die Hälfte reduziert werden.