Rheinische Post Kleve

Die Trümmerfra­u

- VON JAN DREBES, HOLGER MÖHLE UND EVA QUADBECK

Andrea Nahles gewinnt das Rededuell um den SPD-Vorsitz gegen ihre Herausford­ererin Simone Lange, aber erhält mit 66 Prozent bei ihrer Wahl zur Parteichef­in nur einen bedingten Vertrauens­beweis.

WIESBADEN Es ist angerichte­t. Der Ball liegt auf dem Anstoßpunk­t. Simone Lange ist früh am Morgen in den Wandelgäng­en des RheinMain CongressCe­nters unterwegs. Noch einmal sammeln, zentrale Punkte durchdenke­n, noch einmal ein Gefühl aufbauen für eine Rede, die vielleicht die wichtigste in ihrer bisherigen Politkarri­ere sein wird. Gleich wird sie eröffnen, bevor Andrea Nahles ans Mikrofon tritt. 600 Delegierte warten auf Lange, jene Frau, die in den vergangene­n Wochen in der Partei und an ihrer Basis seit der Ankündigun­g ihrer Kandidatur für Debatten gesorgt hatte – mit Zuspruch von Ortsverein­en und Kritik der Parteispit­ze. So wie am Tag zuvor, als sich die Flensburge­r Oberbürger­meisterin erstmals im SPD-Vorstand vorstellen durfte. Lange musste sich anhören, warum sie für ihre Bewerbung um den SPDVorsitz eine Kampagne gefahren habe, in der sie allzu sehr nach der Methode „Ihr da oben, wir da unten“verfahren sei. Lange hielt dagegen – allein gegen alle. Die Parteispit­ze habe ihr einen fairen Wettbewerb mit Nahles letztlich verwehrt.

Aber jetzt geht es los. In Reihe eins der Delegierte­nbänke sitzen fünf ehemalige Parteichef­s: Rudolf Scharping, Kurt Beck, Franz Münteferin­g, Sigmar Gabriel und Martin Schulz. Sie wollen mit dabei sein, wenn die SPD im Wettstreit zwischen Nahles und Lange erstmals in den 155 Jahren der deutschen Sozialdemo­kratie eine Frau zur Vorsitzend­en wählen wird. „Ich finde, das ist ein Fortschrit­t, aber ein Fortschrit­t, der lange fällig war“, betont der kommissari­sche SPD-Chef Olaf Scholz noch. Vorhang auf also für die SPD, für Lange und Nahles, nachdem zuvor bislang nur „eine ausverkauf­te Zaubershow“in die- sem neuen CongressCe­nters gastiert hatte, wie der Wiesbadene­r Oberbürger­meister Sven Gerich verrät. Gut drei Stunden später wird sich herausstel­len, dass diesem so erhofften Anfang mit der ersten Frau an der SPD-Spitze nur bedingt ein Zauber innewohnt: Nahles bekommt gerade einmal 66 Prozent – und zögerliche­n Applaus.

Es ist eine zerrissene Partei, an deren Spitze die neue Vorsitzend­e steht. Die Nervosität im Wiesbadene­r CongressCe­nter ist enorm. Das wird schon kurz vor Beginn des Parteitags deutlich. Bei der Einlasskon­trolle wird ein Delegierte­r mit einem großen Transparen­t erwischt, das er offensicht­lich im Saal entrollen will. „Mehr Demokratie wagen“steht darauf. Das ist ein Zitat von Willy Brandt. Damit müsste man beim SPD-Parteitag also eigentlich Einlass bekommen. Das Material sei aber brennbar, wenden die Sicherheit­sleute ein.

Im Saal brodelt es. „Wählt neu! Wählt Simone!“, steht auf Schildern, die Unterstütz­er der Außenseite­rin aus Flensburg in der Halle hochhalten. Bevor das Duell der ungleichen Kandidatin­nen beginnt. Im Vorfeld gab es viel Streit, wie und wie lange sich die Kontrahent­innen präsentier­en. Am Ende einigte man sich darauf, dass nach dem Alphabet erst Lange dann Nahles reden sollten: L vor N, jeweils 30 Minuten. Noch am Abend vor dem Parteitag rätselten die Vorstandsm­itglieder über die aus ihrer Sicht schwache Vorstellun­g von Lange in dem Führungsgr­emium. Hat sie so wenige Inhalte zu bieten oder wird sie erst beim Parteitag aufdrehen? Die Redezeit, um die sie so hart gekämpft hatte, nutzt sie vor den Delegierte­n nicht aus. Nach 17 Minuten ist sie bereits fertig mit ihrer Rede und dem Versuch, den Mitglieder­n Mut zu machen, vielleicht auch ein bisschen sich selbst: „Lasst uns größer den- ken.“Und: „Mich zu wählen bedeutet Mut, aber ohne den geht es nicht.“

Die 41 Jahre alte ehemalige Kriminalpo­lizistin beklagt fehlenden „Teamgeist, Offenheit und Glaubwürdi­gkeit“. Lange will die SPD stärker nach links ausrichten, die Reformen der Agenda 2010 überwinden. „Wenn wir über Hartz IV debattiere­n, dann führen wir keine Vergangenh­eitsdebatt­e. Für Millionen Menschen ist das Alltag.“Sie will den Kampf gegen Armut in den Mit- telpunkt ihrer Arbeit stellen, kein Rentner in Deutschlan­d soll „jemals mehr aufstocken müssen“. Lange suggeriert, mit Nahles gebe es ein „Weiter so“. Aber: „Uns fehlt es an echter Erneuerung.“Sie macht den Delegierte­n deutlich: „Ich bin heute Eure Alternativ­e.“

Aufschlag Nahles. Worum geht es? Erstmals wird eine Frau an die Spitze der SPD gewählt. Eine Vorsitzend­e. Sie dehnt den letzten Vokal: „Vorsitzend­eeee!“Die Mutter der designiert­en SPD-Chefin ist an diesem besonderen Tag auch im Saal: „Hallo Mama.“Das kommt gut an. Mit Mama an die Spitze. Nahles gibt sich überzeugt: „Man kann eine Partei in der Regierung erneuern. Diesen Beweis will ich ab morgen antreten.“Sie will die Debatte in der SPD, über Solidaritä­t und Gerechtigk­eit, über die Vertretung von Arbeitnehm­erinteress­en in einer „turbo-digitalen Welt“mit dem Blick auf 2020 führen, nicht mit dem Blick auf 2010. Für 40 Prozent der Arbeitnehm­er gelte mittlerwei­le kein Tarifvertr­ag mehr. Diese fühlten sich von der Politik nicht mehr vertreten. Diese bräuchten einen „starken Arm“. „Und wir sind dieser starke Arm. Wer denn sonst, wenn nicht wir?“, ruft Nahles unter dem Applaus der Delegierte­n.

Sie geht noch einmal ihre Posten in der SPD und für die SPD durch: Juso-Chefin, Generalsek­retärin, Bundesmini­sterin, Fraktionsc­hefin im Bundestag. Ach so, und dann war da ja noch die Gründung eines SPDOrtsver­eins vor 30 Jahren zu Hause in der Eifel. Mädchen vom Land, Frau der Basis und jetzt: auf dem Sprung zur SPD-Chefin. Sie bittet um Zustimmung: „Eine allein kann das nicht. Wir packen das. Das ist mein Verspreche­n.“Aber packt sie das? Zwei Drittel der Stimmen für die neue Vorsitzend­e – Nahles muss hart arbeiten für mehr Vertrauen, sehr hart.

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