„Wirtschaftlich hat Kraft die SPD entleert“
Der Ex-Minister im Kabinett von Johannes Rau wirft seiner Partei vor, die Zukunft zu verschlafen.
DÜSSELDORF Der frühere nordrheinwestfälische Bau- und Verkehrsminister Christoph Zöpel war einst der Vordenker der SPD unter NRW-Ministerpräsident Johannes Rau. Die SPD in Nordrhein-Westfalen hat einen neuen überraschenden Fraktionsvorsitzenden Thomas Kutschaty, der sich gegen den Kandidaten der bisherigen Parteiführung durchgesetzt hat. Ein gutes Zeichen? ZÖPEL Es war notwendig, dass es die Wahl zwischen zwei Bewerbern gab, das entspricht auch der Tradition der NRW-SPD aus den 1970/80er Jahren. Sollte es beim Parteivorsitz auch eine Kampfkandidatur geben? ZÖPEL Ich empfinde es als Teil der Schwäche der NRW-SPD, dass sie schwer Kandidaten findet. Einer ist zu wenig. Ich darf daran erinnern, dass Johannes Rau, der lange Zeit als Parteichef die Landespartei und als Ministerpräsident NRW prägte, sich in zwei demokratischen Wettbewerbskandidaturen durchgesetzt hat. Ich fände es gut, wenn noch jemand gegen Sebastian Hartmann antreten würde. Das ist nicht gegen Hartmann gerichtet. In Umfragen liegt die Landes-SPD in ihrem einstigen Kernland am Boden. Ist das ihr Dauerzustand? ZÖPEL SPD-Kernland stimmt nicht, NRW ist das Kernland der CDU mit Adenauer und Arnold. Die SPD erreichte erstmals 1966 die Mehrheit. Über die Umfragen muss aber jeder, der sich ein besseres Ergebnis für die SPD wünscht, besorgt sein. Allerdings hatte die Landespartei in diesen für die SPD bundespolitisch turbulenten Zeiten keine Gelegenheit, ihre Niederlage vom Mai 2017 aufzuarbeiten. Dann tun Sie es. ZÖPEL Die Landespartei vermochte nicht darzustellen, wie sie NRW sieht und was sich verändert hat. Die SPD hat nicht begriffen, dass sich das Land von einer schwerindustriellen Region hin zu einer Dienstleistungsregion verändert hat. Damit hat sie auch kein gutes Angebot an die Wählerinnen gemacht. Ihre Arbeitsmarktpolitik war nach wie vor geprägt von der Großund Schwerindustrie, die männlich dominiert ist. Die frühere Ministerpräsidentin Kraft hat doch klar Flagge für die Unterprivilegierten gezeigt. Und auch für Frauen. ZÖPEL Richtig. Aber Krafts Wirtschaftsprogramm war ausgesprochen männlich orientiert. Zudem hat sie die Kulturpolitik erkennbar vernachlässigt. Niemand hatte den Eindruck, Nordrhein-Westfalen ist ein Kulturland. Ein schwerer Fehler. Kraft war Quereinsteigerin und Forschungsministerin. Das sprach doch eher dafür, dass sie auf Zukunftsthemen setzte. ZÖPEL Hannelore Kraft hat eine große Empfindsamkeit gegenüber den Verlierern der Gesellschaft gezeigt, was ich ausdrücklich bewundere. Wirtschaftlich hat sie das Programm der SPD entleert und sich von der Großindustrie abhängig gemacht. Ihr wichtigster Vertrauter war Fraktionschef Norbert Römer, ein früherer Sekretär der IG Bergbau Chemie und Energie, ein Lobbyist der Schwerindustrie. Rau hat sich nie mit Vertretern der Großindustrie gemein gemacht. Die SPD kämpft für die Unterprivilegierten. Wie geht das heute noch? ZÖPEL Sie muss sich für Familien mit Kindern einsetzen, die es schwer ha- ben. Hier ist ein bildungspolitisches Potenzial zu heben. In den Ballungsräumen ist dazu eine Stadtentwicklungspolitik nötig, die Schulen in benachteiligten Quartieren integriert. Schulen haben auch die Aufgabe, Kinder aus unterprivilegierten Schichten sozial zu integrieren. Wir brauchen gezielt Schulen für Schwache, nicht für Starke. Wie bekommt die Landes-SPD wieder ein brillantes Team zusammen? ZÖPEL Wir brauchen mehr Mitglieder. Wir haben derzeit nur noch ein Drittel der Mitgliederzahl der 80er Jahre. Bei mehr Mitgliedern ist die Auswahl an fähigen Personen größer. Und wir dürfen nicht verkrampft auf regionalen Proporz achten. Rau, Posser und Fahrtmann kamen alle aus dem Bezirk Niederrhein. Allerdings ist es erforderlich, dass die SPD unterschiedliche Landesteile regionalspezifisch anspricht. Die politischen Hauptthemen Arbeit, Bildung, Mobilität, Wohnen, Umwelt und Kultur müssen jeweils für die einzelnen Regionen unterschiedlich aufbereitet werden. Eine Strategie, die das nicht beherzigt, wird auch bei der Wahl 2022 scheitern. Ich hoffe, eine neue Partei- und Fraktionsführung ist sich dessen bewusst.
M. KESSLER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.