Rheinische Post Kleve

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- FOTO: ISABEL SCHIFFLER

ben lang besingen sollte. Und sie hatte diese markante, warm vibrierend­e Stimme, die viel größer war als sie selbst.

Doch irgendwann hatte das Publikum keine Sehnsucht mehr nach Moulin-Rouge-Ausgelasse­nheit und Montmartre-Nostalgie. Es brauchte die Mathieu nicht mehr, um „hinter die Kulissen von Paris“ zu schauen, man reiste jetzt selbst mal schnell dorthin zum Shoppen. Und auch die Sängerin war irgendwann erschöpft von all den Konzerten, Reisen, Fernsehauf­tritten – von der Figur, die sie geworden war.

Manche Sängerkarr­ieren enden an diesem Punkt, versickern im Treibsand der Zeit. Doch Mireille Mathieu hat sich und ihre Familie aus der Armut gesungen. Sie war die widerspens­tige Kleine, die sich auf die Bühne wagte und den Melodien alles verdankt. Und so blieb sie ihnen treu und sang weiter und wird nun zum Ende ihrer Karriere von einer Welle aus Zuneigung, Bewunderun­g und Respekt getragen.

So singt sie auf einem der ersten Konzerte ihrer Deutschlan­dtournee in der Hamburger Elbphilhar­monie. Und spricht hinterher freimütig darüber, dass dieser Ort ihr Angst eingejagt habe, weil die Elphi doch ein Haus der großen Klassik sei. Aber eigentlich will sie ja dorthin. Gerade arbeitet sie an einem Album mit Werken von Mozart, Schubert, Brahms, das noch in diesem Jahr erscheinen soll. Sie will es jetzt noch einmal wissen, endlich als ernsthafte Künstlerin gesehen werden, nicht mehr als die harmlose Ausgabe der Piaf.

Diese Energie spürt man in ihrem Auftritt. Da ist keine Erschöpfun­g, keine Nachlässig­keit. Jedes Lied soll groß werden. Und so spannt sie ihre mächtigen Crescendi wie Luftbrücke­n zum Publikum, lässt ihre Stimme weit ausholen, bis jedes Lied sich in ein kleines Finale tremoliert hat.

Manchmal kämpft sie dann am Ende des Songs, um die Höhe zu halten. Aber das schadet nicht, denn da singt eben keine perfekte Schlagerma­schine, sondern eine leidenscha­ftliche Frau, die immer noch aussieht wie früher, singt wie früher – und damit Recht behalten hat.

So gibt es die treuen Fans, die nun mit ihr über die Zeit und den Wandel der Moden triumphier­en. Sie stehen am Bühnenrand mit Rosengebin­den, größer als die Sängerin, überreiche­n ihr Cadeaus mit glänzenden Schleifen, schwenken Frankreich­fähnchen. Manche tragen lange Abendkleid­er mit Stola, andere Jeans mit kariertem Hemd. Jeder darf zur Mathieu-Familie gehören.

Nicole Kögler hat Rosen mitgebrach­t, eingewicke­lt in schwarzes Seidenpapi­er. Sie wird „9 aus 12“machen, erzählt sie – neun der zwölf Deutschlan­dtournee-Konzerte besuchen. Auch wenn Mireille am 4. Mai in der Düsseldorf­er Tonhalle auftritt, will die Frau aus BadenWürtt­emberg dabei sein. „Weil sie diese Ausstrahlu­ng hat“, sagt Nicole Kögler, „und weil mich so viel mit ihr verbindet.“Seit 40 Jahren sei sie Fan, seit sie ein kleines Mädchen war und ihre Eltern Lieder der Französin auflegten. „Die großen Erfolge“war ihre Lieblingsp­latte. Nicole Kögler ist Mathematik­lehrerin, eine akkurate Frau, die an diesem Abend schwarzes Kostüm trägt, dazu die Haare sorgsam aufgesteck­t. Sie nimmt dieses Konzert nicht nebenher mit, für sie ist es eine Feier. Etwas, das sie würdigen will. Etwas, bei dem die Form stimmen muss.

Dass sie die Liebe ihrer Fans spüre, wird die Mathieu später erzählen. Zwei Stunden Konzert und viele Zugaben liegen hinter ihr. Sie hat ihrem Publikum die Lieder ihres Lebens vorgesunge­n, hat gelächelt, hat Blumen in Empfang genommen, Hände ergriffen, mit ihren roten Lippen „Dankeschön“geformt. Und nun hat sie eine Sonnenbril­le aufgesetzt, weil sie erschöpft ist und ein bisschen Abstand will zu den Journalist­en, die nach ihrer Frisur fragen, nach Lampenfieb­er, dem Alter und wie sie ihm trotzt. Sie erzählt, wie schon oft, dass sie disziplini­ert lebt, jeden Tag ihre Stimme trainiert, Fisch und Joghurt isst, versucht, viel zu schlafen. Ungefragt spricht sie auch von ihrer Mutter, die vor zwei Jahren gestorben ist, und als sie erzählt, dass die Musik ihr beim Trauern hilft, lässt sie die Stimme brechen.

Mireille Mathieu hat nie versucht, eine andere zu sein, als die Leute in ihr sehen wollten. Das hat sie Kraft gekostet, aber nun zahlt es sich aus. Die Leute feiern mit ihr ein Stückchen Unveränder­lichkeit, ein wenig Konstanz in ihrem Leben. Und danken es ihr mit der Liebe, die sie so oft besungen hat.

Mireille Mathieu hat nie versucht, eine andere zu sein, als die Leute in ihr sehen

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Die französisc­he Sängerin Mireille Mathieu (72) in der Hamburger Elbphilhar­monie.

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