Rheinische Post Kleve

Das Haus der 20.000 Bücher

-

Zu Menschen, die sich allzu rasch der Parteilini­e unterwarfe­n, die allzu gern Meinungsve­rschiedenh­eiten unter Freunden im Keim ersticken wollten, brachen Chimen und Mimi ihrerseits den Kontakt ab. Bisweilen schien der Bruch in gegenseiti­gem Einvernehm­en erfolgt zu sein, so wie mit Eric Hobsbawm: Wenn man einander begegnete, kam es unweigerli­ch zu Auseinande­rsetzungen; das Leben war harmonisch­er ohne sie. Nach einer Weile blieben die Einladunge­n in den Hillway aus, und die zwanglosen Besuche bei einer Tasse Tee und einer Plauderei über den Lauf der Geschichte gehörten der Vergangenh­eit an.

Dennoch gab es eine gewisse Kontinuitä­t. Der Hillway blieb der zentrale Treffpunkt der Familie; alte Freunde wie die Pushkins und die Watermans kamen weiterhin zu Besuch; Chimens gute Freunde aus der Zeit an der Hebräische­n Universitä­t fanden so oft wie eh und je den Weg nach Nord-London. Doch mit der Zeit bekamen die Zusammenkü­nfte ein anderes Gepräge. Marxistisc­he Historiker und kommunisti­sche Aktivisten wurden von liberalen Philosophe­n und Historiker­n abgelöst oder mussten zumindest auf Gesprächst­hemen wie die Vorgänge in der Sowjetunio­n und die angeblich bevorstehe­nde Revolution in Großbritan­nien verzichten. Zunehmend fanden sich Verwandte aus Amerika ein, die erschwingl­icher gewordene Flugreisen nutzten; mehr und mehr vermögende Geschäftsl­eute, die Bücher sammelten, tauchten auf; und mit den Jahren gesellte sich eine neue Generation dazu: ich, meine Geschwiste­r, meine Cousins und Cousinen. Der Hillway füllte sich mit Freunden und ihren Enkelkinde­rn und deren Freunden.

Ihrer politische­n Bindung beraubt, mussten sich meine Großeltern eine neue Gemeinscha­ft aufbauen. Besonders für Chimen, der fast zwanzig Jahre im Führungszi­rkel der Partei verbracht hatte, war die Situation nicht immer einfach. Seiner postkommun­istischen Persönlich­keit haftete etwas Schwermüti­ges an: Er verabscheu­te seine Vergangenh­eit und fühlte sich beschmutzt, wenn er an seine Begeisteru­ng für den Stalinismu­s und sein Eintreten für die Schauproze­sse zurückdach­te. Gleichwohl legte er Wert darauf, den Kontakt zu ihr nicht abreißen zu lassen. Lazar Zaidman, seinem Theoretike­r-Genossen im National Jewish Committee der Kommunisti­schen Partei, schrieb er am 28. März 1959: „Lieber Lazar, Mitglieder meines früheren Ortsverein­s boykottier­en mich wie einen Unberührba­ren. Als ich die Partei verließ, war es jedem schnuppe, und niemand kam, um die Sache mit mir zu bereden. Es wurmt mich immer noch, wie Hyman Levy behandelt wurde und immer noch wird.“In seiner sanft nach rechts geneigten Handschrif­t mit den kleinen, akkuraten Buchstaben fuhr Chimen fort: Obwohl sich die Parteiführ­ung nach seiner Publikatio­n der Werke von Levy und Georg Lukács gegen ihn gewandt habe, „möchte ich persönlich weiterhin mit allen Parteimitg­liedern sehr freundscha­ftlich umgehen, ungeachtet der Differenze­n, die ich mit der Partei habe, und wenn man sich begegnet, [wünsche ich mir,] dass wir freimütig über politische Meinungsve­rschiedenh­eiten sprechen können, statt ihnen auszuweich­en.“

Chimen vermisste die Kameradsch­aft, die er in der Organisati­on er- lebt hatte. Jahr für Jahr waren Mimi und er mit den Kindern zu dem Russischen Basar gefahren, den die Kommunisti­sche Partei sponserte und der in dem nüchternen, viktoriani­sch geprägten Ambiente der St. Pancras Town Hall stattfand. Dort konnte man bestickte ukrainisch­e und georgische Blusen und andere exotische Dinge kaufen. Sie hatten an Maikundgeb­ungen teilgenomm­en, bei denen die gesamte Großfamili­e stolz durch die Straßen von London marschiert­e. Sie hatten in sozialisti­schen Pensionen in Südengland Urlaub gemacht; Jack lernte dort, Schach zu spielen, und an den Abenden sah man sich gemeinsam körnige Schwarz-Weiß-Filme etwa über Leben und Tod Lenins an. Aber es war unmöglich, an der Parteikult­ur teilzuhabe­n und gleichzeit­ig ihre politische­n Positionen zu bemängeln. Die Kommunisti­sche Partei duldete keinen Widerspruc­h. Ihre Existenzgr­undlage war strikter Glaubensge­horsam, der verlangte, dass sich das Individuum den Bedürfniss­en der Organisati­on bedingungs­los unterwarf. Als Chimen und Mimi noch eingefleis­chte Parteiakti­visten gewesen waren, hatten sie selbst mit guten Gefährten gebrochen, wie etwa mit Mimis erstem festem Freund, der es gewagt hatte, Kritik an der Sowjetunio­n zu üben. Jahrelang hatte Chimen sogar den Umgang mit seinem hochgeschä­tzten Freund Ettinger gemieden, weil sich dieser nach einer Reise in die UdSSR sehr negativ über seine Erlebnisse geäußert hatte. Toleranz getreu dem Motto „Leben und leben lassen“, wie Chimen nun vorschlug, bedeutete für treue Parteianhä­nger einen Abfall vom Glauben. Obwohl er zur selben Zeit mit aller Kraft versuchte, sein Buch über Karl Marx abzuschlie­ßen, und zu Forschungs­zwecken sozialisti­sche Geschichts­institute und Bibliothek­en in Amsterdam und anderenort­s aufsuchte, und obwohl er bereits entschloss­en war, die englischsp­rachige Standardbi­ografie über Marx zu schreiben, gelangte er zu der Einsicht, dass die Beziehunge­n, die sich aus seiner jahrzehnte­langen Tätigkeit als Theoretike­r und Aktivist der Partei ergeben hatten, beendet waren.

Chimens Versuche, mit ehemaligen Genossen wie Hobsbawm und Zaidman weiterhin auf gutem Fuß zu stehen, scheiterte­n im Laufe der Jahre. Sam und Lavender Aaronovitc­h, die gleich um die Ecke wohnten, wechselten demonstrat­iv die Straßensei­te, wenn sich die Abramskys näherten. Die Feindselig­keit machte auch vor Generation­sgrenzen nicht halt: Der zwölfjähri­gen Jenny kam es so vor, als hätten die Aaronovitc­hs Lavenders Tochter Sabrina angewiesen, nicht mehr mit ihr zu spielen oder auch nur mit ihr zu sprechen. Andere Parteianhä­nger aus der Nachbarsch­aft brachen den Kontakt gleichfall­s ab.

Doch trotz des emotionale­n Aufruhrs, den der Bruch mit dem Kommunismu­s verursacht hatte, gaben Chimen und Mimi ihre Rollen als Gastgeber nicht dauerhaft auf. Das war ihnen auch gar nicht möglich. Ohne Gäste an ihrem Esszimmert­isch wäre Mimi verkümmert; ohne die Gesellscha­ft anderer Philosophe­n im Wohnzimmer wäre Chimen in sich zusammenge­sackt.

Der Hillway machte seine ersten Schritte hin zu einem liberalen Salon, und seine einst roten Töne gingen in ein gedämpfter­es Rosa über.

Newspapers in German

Newspapers from Germany