Rheinische Post Kleve

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- © 1987/2011 PAUL ZSOLNAY VERLAG, WIEN

Mit euch beiden hab’ ich nichts mehr zu reden.“Fräulein Hoffmann kam neugierig näher. „Haben sich die Herren gestritten?“fragte sie. „Es sieht beinah’ so aus. Was hat’s denn gegeben?“

Der Professor lehnte sich in seinen Klubfauteu­il zurück. Er lächelte und blies den Rauch seiner Zigarette von sich.

„Ah, nichts von Bedeutung“, sagte er. „Mein Freund will durchaus nach Moskau, einen russischen Offizier umbringen.“

Verraten und verspottet, dem albernen und übermütige­n Gelächter der drei jungen Mädchen preisgegeb­en, verließ Vittorin mit vor Bestürzung, Zorn und Scham verzerrtem Gesicht das Zimmer. In diesem Haus hatte er nichts mehr zu suchen.

Draußen, im Vorzimmer, hatte er, während ihm der Diener in den noch immer regenfeuch­ten Mantel half, eine kurze Unterredun­g mit Kohout.

„Das hätte ich dir im vorhinein sagen können, dass das so kommen wird, mein Lieber“, erklärte Kohout, indem er von einem Fuß auf den anderen trat, „die Bourgeoisi­e hat kein Ehrgefühl und keinen Charakter. Ist es dir nicht aufgefalle­n, dass sie sich absentiert haben, die beiden, Feuerstein und der Professor, wie wir die revolution­ären Lieder gesungen haben? Bande das!“

Lola öffnete die Tür des Kabinetts. Ein Blick durch die Spalte belehrte sie, dass Georg nicht mehr schlief. Er lag, halb angekleide­t, auf seinem Bett und blätterte in einem roten Heft. Sie trat ein. „Du bist wach?“fragte sie. „Wenn ich geahnt hätte, dass du nicht mehr schläfst, wäre ich viel früher gekommen. Weißt du, wie spät es ist? Dreivierte­l elf. Du bist erst gegen eins nach Hause gekommen, der Vater hat dich gehört. Hast du dich unterhalte­n? Guten Morgen übrigens. Soll ich dir nicht dein Frühstück bringen?“

Georg Vittorin klappte das Heft zu.

„Nein, danke. Ich komme gleich hinein. Ich bin schon lange wach, ich habe nur ein bisschen russisch rekapituli­ert, Vokabeln und Übungssätz­e, was man so braucht, um sich den Leuten verständli­ch zu machen. Ob ich mich unterhalte­n hab’? Na ja, wie man’s nimmt. Lehrreich war der gestrige Abend jedenfalls. – Sonst noch was, Lola?“

Sie hatte mit ihrem Bruder über eine Sache zu sprechen, die ihr sehr am Herzen lag. Doktor Bamberger, der Zimmerherr, dem sie eine unbegrenzt­e Achtung entgegenbr­achte, interessie­rte sich für Georg, er hatte den Wunsch geäußert, ihn kennenzule­rnen. Das konnte für ihren Bruder von der größten Wichtigkei­t sein. Doch sie zog es vor, zunächst von Dingen zu sprechen, denen sie geringere Bedeutung beimaß.

„Die Franzi war heute Morgen hier, schon in aller Früh’“, sagte sie. „Sie läßt dich fragen, ob du sie nicht mittags im Domcafé erwarten willst. Sie arbeitet durch und will nur so gegen eins auf eine halbe Stunde ins Kaffeehaus, eine Kleinigkei­t essen. Du sollst ihr Gesellscha­ft leisten. Sie hat sich bitter darüber beklagt, daß du dich die ganze Woche über gar nicht um sie gekümmert hast.“

„Sie weiß doch ganz gut, daß ich zu tun hab’“, rief Georg Vittorin ungeduldig. „Den ganzen Tag, von früh bis abends, Besprechun­gen, Konferenze­n, einmal da, einmal dort. Gestern zum Beispiel hatte ich nachmittag­s im vierten Bezirk zu tun, eine wichtige Unterredun­g – eine halbe Stunde später mußte ich im Café Splendid in der Praterstra­ße sein, von dort nach Hause, mich umziehen, und wieder zurück in die Prinz-Eugen-Straße zu einer Konferenz – reine Hetzjagd! Und dann die Arbeit auf den Bahnhöfen, stundenlan­g stehen und die Heimkehrer­züge abpassen, ich brauche gewisse Auskünfte, Recherchen sind nötig, und das ist eine Arbeit, die ich keinem anderen überlassen kann. Aber das weiß sie doch alles, die Franzi, was will sie denn, warum quält sie mich?“

Lola wusste nichts darauf zu erwidern.

„Übrigens wird das von heut’ ab anders“, fuhr Vittorin fort. „Ich muß nicht mehr auf die Bahnhöfe, alles, was ich wissen wollte, hab’ ich erfahren. Auch die Vorbesprec­hungen sind erledigt. Jetzt heißt es arbeiten und Geldverdie­nen. Ist’s wirklich schon dreivierte­l elf? Höchste Zeit, dass ich mich fertig mach’ und fortgeh’. Viel zu lang bin ich heut’ zu Hause geblieben. Das darf nicht mehr vorkommen, dass ich den ganzen Vormittag vertrödel’.“

„Du kannst dich schon noch ein paar Tage ausruhen“, meinte die Schwester. „Vater sagt, dass du erst vom fünfzehnte­n an wieder in dein Büro gehen sollst.“

„In das Büro, auf der Schreibmas­chine klappern?“rief Georg Vittorin. „Ich denke nicht daran. Hundertach­tzig Kronen im Monat, vielleicht zweihunder­t ab Neujahr, wenn’s gut geht – heißt denn das Geldverdie­nen? Wenn ich im Kino Geige spiel’, bekomm’ ich mehr. Hast du denn eine Ahnung, Lola, was jetzt verdient wird?“

Lola setzte sich an den Rand seines Bettes.

„Hör’ mal zu, Georg“, sagte sie. „Ich hab’ dir’s schon gestern sagen wollen, aber gestern hab’ ich dich ja kaum gesehen. Übrigens das mit dem Kino –, das ist doch sicher nicht dein Ernst, das ist doch kein Beruf für unsereinen. Ich könnt’ ja auch mit meiner Stimme – für Chansons in einem Vorstadtva­rieté, dazu reicht sie, vielleicht tu ich’s auch, lieber tu ich’s, als dass ich den Ebenseder – Georg, heut’ hat es wieder Streit gegeben, der Vater hat sich furchtbar aufgeregt, er ist so reizbar seit einiger Zeit. Er hat schwere Sorgen, ich glaub’, sie wollen ihn in Pension schicken, und dabei hat er doch erst siebzehn Dienstjahr­e, das ist doch eine Ungerechti­gkeit! Aber laß dir’s ja nicht anmerken, daß ich dir was gesagt hab’, er will nicht, daß darüber gesprochen wird.“

Herrn Vittorin senior hatte der verlorene Krieg, der Zusammenbr­uch der alten Armee, der Sturz der Dynastie, der Zerfall des Reiches völlig aus dem Gleichgewi­cht gebracht. Es war ihm nicht möglich, sich mit der Entwicklun­g, die die Dinge nahmen, abzufinden. Er wurde rechthaber­isch und streitsüch­tig, er glaubte sich von aller Welt angefeinde­t und verfolgt. Ohne juristisch­e Vorbildung, außerstand­e, die Natur komplizier­ter Rechtsgesc­häfte zu begreifen, hatte er wiederholt schon bei der Bemessung der Gebühren, die in sein Ressort fiel, Fehler begangen, unrichtige Tarifsätze angewendet. Zur Rechenscha­ft gezogen, hielt er sich für ein Opfer politische­r Machenscha­ften, und er setzte sich auf eine Art zur Wehr, die seine Sache nur verschlimm­erte.

(Fortsetzun­g folgt)

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