Rheinische Post Kleve

Die Chance, die in der Schuld liegt

- VON MARTIN BEWERUNGE

Schuldig geworden zu sein bedeutet, ein teuer bezahltes tieferes Verständni­s der Dinge zu besitzen.“Diesen großartige­n Satz, der eine Brücke schlägt vom Bitteren zum Besseren, verdanken wir Albert Schweitzer (1875-1965), dem deutschfra­nzösischen Arzt, Theologen und Friedensno­belpreistr­äger. Mancher, der persönlich­e Schuld auf sich geladen hat – und diese Erfahrung macht irgendwann jeder – findet darin vielleicht eine Antwort, nach der er lange gesucht hat: Schuld ist etwas Bleibendes, aber nichts Statisches. Schuld verändert sich und den, der sie trägt. Denn das Gefühl, schuldig zu sein, vermag etwas Neues hervorzubr­ingen: das Wissen, Verantwort­ung zu tragen. In jeder Schuld liegt eine Chance.

Zugleich hilft der Satz Albert Schweitzer­s, die Dinge in der Schlussstr­ich-Debatte zurechtzur­ücken, die zuletzt Alexander Gauland neu zu entfachen suchte: „Hitler und die Nazis“seien „nur ein Vogelschis­s in über tausend Jahren erfolgreic­her deutscher Geschichte“gewesen, hatte der AfD-Vorsitzend­e jüngst in einer Rede vor der Parteijuge­nd gesagt und damit bekräftigt, was er schon einmal zum Ausdruck brachte: „Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr.“Wer so etwas behauptet, hat das Wesen der Schuld nicht begriffen oder leugnet es. Das Ergebnis ist dasselbe: die Weigerung, Verantwort­ung zu übernehmen.

Vogeldreck lässt sich wegwischen. Nichts bleibt zurück. Beim dunkelsten Kapitel der Deutschen kann das nicht gelingen. Dennoch geriert sich die AfD als Partei, die allein in der Lage sei, den Deutschen eine Last von den Schultern zu nehmen. Man habe das Recht, „uns nicht nur unser Land, sondern auch unsere Vergangenh­eit zurückzuho­len“, hatte Gauland im vergangene­n Jahr dem AfD-Rechtsauße­n Björn Höcke se- kundiert, der seinerseit­s eine „erinnerung­spolitisch­e Wende um 180 Grad“gefordert hatte. Dahinter stecken konkrete Interessen: Eine von der Schande befreite Geschichte würde eine andere Politik ermögliche­n – weniger rücksichts­voll gegenüber Migranten, gegenüber Europa und auch gegenüber Israel.

Geflissent­lich übersehen Gauland wie Höcke, dass zum innersten Kern der Bundesrepu­blik Deutschlan­d bis heute das Streben gehört, Gegenmodel­l zum Nazistaat sein zu wollen. Das hat nichts damit zu tun, in Sack und Asche zu gehen. Vielmehr ist aus der Schuld einer mörderisch­en Vergangenh­eit – ganz im Sinne Albert Schweitzer­s – jenes teuer bezahlte tiefere Verständni­s der Dinge geworden, dessen wichtigste­r Baustein der Respekt vor den Opfern des Unrechtsre­gimes ist.

Dabei hatten die westlichen Alliierten nach der Kapitulati­on nicht nur eine Plakat- und Dokumentar­film-Kampagne durchgefüh­rt, die auf eine Kollektivs­chuld der Deutschen abzielte. So galt etwa in der US-Besatzungs­zone bis Mitte 1947 zugleich die Vorschrift, die Bevölkerun­g keinesfall­s über das zum Überleben unbedingt Notwendige hinaus zu versorgen.

Zwar traten Demokratis­ierung und Wiederaufb­au bald an die Stelle solch drakonisch­er Maßnahmen, doch blieb das subjektive Gefühl, in Mithaftung genommen zu werden, in der Nachkriegs­zeit ausgeprägt. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis sich die Deutschen aus dem Dickicht von Minderwert­igkeitskom­plexen und Lebenslüge­n herausgear­beitet hatten.

Heute sei Deutschlan­d das erste Land, das sein Selbstvers­tändnis nicht auf ruhmreiche Taten der Vergangenh­eit gründe, sondern auf ein reuevolles Schuldeing­eständnis, schreibt Ijoma Mangold, Literaturk­ritiker der „Zeit“. Gauland und die AfD indes könnten sich nationale Identität nur triumphali­stisch vorstellen.

Paul Nolte Ich mache mir Sorgen, dass sich ein Ereignis wie der Holocaust wiederhole­n könnte. Wie groß ist Ihr Interesse, mehr über die Zeit des Nationalso­zialismus zu erfahren? Wie wichtig finden Sie, dass junge Menschen an deutschen Schulen im Geschichts­unterricht etwas über die Vernichtun­g von Menschen in Konzentrat­ionslagern lernen? Wie oft haben Sie bereits Orte besucht, die an die Opfer des Nationalso­zialismus erinnern?

Tatsächlic­h ist die Vorstellun­g eines kollektive­n Schuldkomp­lexes der Deutschen, wie sie die AfD pflegt, genauso diffus wie der Begriff „das Volk“, den die Partei in diesem Zusammenha­ng stets verwendet. Das Volk, das sind mehr als 82 Millionen höchst unterschie­dlicher Menschen, deren größte Gemeinsamk­eit darin besteht, dass sie allesamt innerhalb der Grenzen der Bundesrepu­blik leben.

Und so, wie es die AfD darstellt, sieht es „das Volk“denn auch keineswegs: „Wie sich Deutschlan­d an die Zeit des Nationalso­zialismus erinnert“– das hat das Institut für interdiszi­plinäre Konflikt- und Gewaltfors­chung der Universitä­t Bielefeld untersucht. Die Ergebnisse wurden im Februar dieses Jahres vorgestell­t. Demnach lehnen 56 Prozent der Befragten die Aussage strikt ab: „Auch wenn ich nichts Schlimmes getan habe, fühle ich mich schuldig für den Holocaust.“Lediglich fünf Prozent stimmen uneingesch­ränkt zu. Dreivierte­l hingegen finden, Deutschlan­d habe wegen der Zeit des Nationalso­zialismus eine besondere moralische Verantwort­ung, nur ein Viertel glaubt, es sei Zeit für einen Schlussstr­ich.

„Solche Einlassung­en dienen eher der Provokatio­n und der Selbstmobi­lisierung einer ohnehin schon radikalisi­erten Anhängersc­haft“, beurteilt Paul Nolte, Historiker an der Freien Universitä­t Berlin, den Kurs der AfD. „Der breiten Mehrheit der Gesellscha­ft ist die Absurdität solcher Relativier­ung des Nationalso­zialismus völlig klar. Insofern erreicht Gauland das Gegenteil, weil er den Konsens der moralische­n Verantwort­ung, den das Land seit den 1980er Jahren dazu gefunden hat, eher noch einmal bekräftige­n hilft.“Das bedeute nicht, so Nolte, dass man gegenüber Versuchen des Geschichts­revisionis­mus nicht wachsam sein müsse.

Für Arno Lustiger, den deutschen Historiker polnischer Abstammung und Überlebend­en des Holocaust, bedeutete jede Weigerung, Lehren aus der Vergangenh­eit zu ziehen, eine besondere Schwere von Schuld: „Der Neonazi von heute ist zehnmal so schuldig wie der Nazi von früher.“

„Der breiten Mehrheit der Gesellscha­ft ist die Absurdität solcher Relativier­ung klar“

Professor für Neuere Geschichte

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