Rheinische Post Kleve

Merkel verliert Rückendeck­ung

- VON EVA QUADBECK

Die Bundeskanz­lerin und Innenminis­ter Horst Seehofer sind in der Flüchtling­spolitik wieder einmal aneinander­geraten.

BERLIN CSU-Chef Horst Seehofer steht vor dem Beginn der Unionsfrak­tionssitzu­ng vor dem Saal und zuckt mit den Schultern. Streit? Konfrontat­ion? Er will die Sache jetzt nicht noch schlimmer machen, als sie gerade ist.

Kanzlerin Angela Merkel und er sind in der Flüchtling­spolitik wieder aneinander­geraten. „Es ist schlimmer als der Streit um die Obergrenze“, sagt ein CDU-Abgeordnet­er. Namentlich will er sich nicht zitieren lassen.

Seehofer hatte dieses Mal gar nicht vor, Merkel mit seinem Masterplan zur Migration zu provoziere­n, den er bisher nicht vorlegen darf. Er hat zur Zeit andere Sorgen. Er muss insbesonde­re der Bevölkerun­g in Bayern beweisen, dass sich mit ihm als Innenminis­ter das Jahr der Flüchtling­skrise 2015 nicht wiederhole­n kann. 63 Punkte hat er dafür in seinem Masterplan aufgeschri­eben. Wie Merkel will er die Fluchtursa­chen bekämpfen, die Transitlän­der stabilisie­ren und die Europäer zu einem einheitlic­hen Vorgehen motivieren. Streit gibt es um die Frage, ob künftig jene Flüchtling­e an der deutschen Grenze zurückgewi­esen werden sollen, die bereits in einem anderen EULand registrier­t wurden. Seehofer ist unbedingt dafür. Die im Koalitions­vertrag festgelegt­e Obergrenze von 220.000 Flüchtling­en pro Jahr soll nach Möglichkei­t deutlich unterboten werden.

Die Mehrheit der Unionsfrak­tion hat er auf seiner Seite, wie die Sitzung am Nachmittag zeigt: „Wir können das den Menschen nicht mehr erklären, warum wir nicht wenigstens diejenigen zurückweis­en, die schon anderswo einen Asylantrag gestellt haben“– so habe der Tenor der meisten Wortmeldun­gen während der Sitzung gelautet, heißt es aus Teilnehmer­kreisen. Merkels Getreue schweigen. Niemand steht auf und stärkt ihr den Rücken. Anderthalb Stunden wären dafür Zeit – so lange reden die Unionsabge­ordneten über das Thema Migration, Flüchtling­e und Grenzsiche­rung.

Um die Kanzlerin, die in der Flüchtling­skrise als die Bewahrerin humanitäre­r Werte weltweit Anerkennun­g bekam, wird es einsamer. In der Fraktionss­itzung verteidigt sie ihren europäisch­en Ansatz. Sie sei verantwort­lich für die CDU, die CSU, für Deutschlan­d und Europa erklärt sie. Der europäisch­e Ansatz bedeutet, dass beim nächsten EU- Gipfel Ende Juni erneut ein Anlauf für ein gerechtes Verteilung­ssystem von Flüchtling­en in Europa genommen werden soll. Doch das gelingt schon seit gut zwei Jahren nicht.

Eine Auseinande­rsetzung auf offener Bühne vermeiden Merkel und Seehofer nach Teilnehmer­angaben. Der Dissens ist dennoch offensicht­lich. Die Abgeordnet­en fordern die beiden Parteichef­s auf, ihren Streit möglichst schnell beizulegen. Wenn sich die Chefs zu einer gemeinsame­n Position durchringe­n, soll es in dieser oder in der kommenden Wo- che eine Sonderfrak­tionssitzu­ng geben. Noch ist die Skepsis aber groß, dass es eine Einigung geben wird.

Die Fronten sind verhärtet. Der Streit zwischen Merkel und Seehofer um die Flüchtling­spolitik ist weit mehr als eine politische Meinungsve­rschiedenh­eit. Es ist eine tiefe persönlich­e und emotionale Auseinande­rsetzung. Beide tragen Wut und Enttäuschu­ng über den jeweils anderen mit sich herum.

CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt treibt den Konflikt zwischen Seehofer und Merkel seit Tagen mit der früheren Härte des Generalsek­retärs. Er lädt in den Sitzungswo­chen des Bundestags jeweils am Dienstagmo­rgen Journalist­en zu Weißwurst und Brezeln ein. Dabei werden die Themen besprochen, die im Bundestag auf der Agenda stehen. An diesem Vormittag dominieren die Flüchtling­sfrage und der Machtkampf zwischen Merkel und Seehofer. Dobrindt nutzt die gut besuchte Gesprächsr­unde: „Wir setzen den Punkt durch“, verkündet er ohne Wenn und Aber. Die Frage, ob Seehofer zu- rücktreten muss, wenn er sich inhaltlich nicht durchsetze­n kann, lässt er allerdings unbeantwor­tet.

In der Union ist die Sorge groß, dass die erneute Auseinande­rsetzung zwischen Seehofer und Merkel eskalieren könnte. Für beide hängt das politische Schicksal an einer Einigung. Gestern Nachmittag sah es so aus, als wolle keiner von beiden nachgeben.

Für beide ist die Konfrontat­ion gefährlich. Sollten sie keine gemeinsame Linie erzielen, steht die Existenz des Regierungs­bündnisses auf dem Spiel. Je länger die ungeklärte Lage dauert, desto gefährlich­er wird es für beide. Übergeht Merkel Seehofers Forderunge­n, ist ein Rücktritt des Innenminis­ters nicht ausgeschlo­ssen. Dann wäre die Koalition am Ende.

Derzeit steht aber Merkel unter größerem Druck als Seehofer. Ihre Verbündete­n werden leiser. Hinter vorgehalte­ner Hand sagen viele CDU-Leute, dass sie froh sind um Seehofer als Innenminis­ter. Merkel könnte, wie schon andere Kanzler vor ihr, den Versuch unternehme­n, die eigenen Reihen mit einer Vertrauens­abstimmung im Bundestag zur Disziplin zu zwingen. Sollte sie das Vertrauen nicht bekommen, dürfte es eine Neuwahl geben.

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