Rheinische Post Kleve

Das Dublin-Verfahren schafft einen Verschiebe­bahnhof

- VON GREGOR MAYNTZ

Jeder dritte Flüchtling müsste sein Asylverfah­ren eigentlich in einem anderen Staat durchlaufe­n. Seehofer fordert Zurückweis­ungen.

BERLIN 12.370 Menschen hat die Bundespoli­zei im vergangene­n Jahr an der deutschen Grenze zurückgewi­esen. Dabei handelte es sich um Personen ohne Papiere und ohne ausdrückli­chen Asylwunsch. Wäre CSU-Chef Horst Seehofer bereits Bundesinne­nminister gewesen und hätte er die alten Maßgaben des Asylgesetz­es umgesetzt, wären fast 65.000 dazugekomm­en. Das geht aus Zahlen des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e hervor. Danach standen 198.317 Asylanträg­en 64.267 Fälle gegenüber, bei denen die deutschen Behörden ein anderes Land für zuständig hielten. Das ist fast jeder Dritte. Allerdings stammen die Verfahren aus verschiede­nen Jahren und sind damit schwer vergleichb­ar. Zudem ist es stark umstritten, ob deutsche Gesetze, die Europarech­t widersprec­hen (hier: Asylgesetz contra Dublin-Vereinbaru­ng), überhaupt angewandt werden können.

Seehofer will in seinem Streit mit der Kanzlerin offenkundi­g auf den Wortlaut des deutschen Asylgesetz­es zurückkomm­en. Nach Paragraf 18 ist jedem Ausländer die Einreise unter anderem dann zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat einreist oder ein anderer EUStaat für das Asylverfah­ren zuständig ist (Dublin). Freilich kann diese Vorschrift außer Kraft gesetzt werden, wenn dem EU-Rechtsvors­chriften entgegenst­ehen oder das Innenminis­terium dies, etwa zur Wahrung politische­r Interessen oder aus humanitäre­n Gründen, angeordnet hat. Diese Anordnung er- ging im Sommer 2015 mündlich und ist seitdem nicht zurückgeno­mmen worden.

Wäre im vergangene­n Jahr dennoch konsequent zurückgesc­hoben worden, hätte Deutschlan­d 22.706 Flüchtling­e nach Italien zu bringen versucht, 4417 nach Frankreich, 3304 nach Ungarn, und viele Tausend in weitere 28 Länder. Doch diese Staaten müssen dem Vertrag von Dublin erst einmal zustimmen. Und dann können die Betroffene­n noch dagegen klagen; viele tauchen auch einfach unter, bevor sie in die ei- gentlich zuständige­n Länder gebracht werden können. So kamen tatsächlic­h nur 2110 Flüchtling­e nach Italien, 530 nach Frankreich und 31 nach Ungarn. Statt der 64.267, bei denen die deutschen Behörden eine Zuständigk­eit anderer Länder erkannten, gab es eine Rücknahmeb­ereitschaf­t nur für 46.873 Personen. Und tatsächlic­h überstellt wurden dann lediglich 7102.

Doch die Zahl der Flüchtling­e in Deutschlan­d sank damit mitnichten. Denn das Dublin-Verfahren hat zu einem riesigen Verschiebe­bahn- hof mit einem gigantisch­en bürokratis­chen Aufwand geführt. Denn im Gegenzug kamen aus den anderen Ländern 8754 Flüchtling­e in das primär zuständige Deutschlan­d. Oft liegt man hier nah bei einem Nullsummen­spiel. Schweden nahm aus Deutschlan­d zum Beispiel 498 Flüchtling­e, schickte im Gegenzug aber 438 andere nach Deutschlan­d. Auch deshalb will Bundeskanz­lerin Merkel Dublin reformiere­n und eine verbindlic­he Flüchtling­squote für jeden einzelnen EU-Mitgliedst­aat.

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FOTO: DPA Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) unterhalte­n sich zu Beginn der CDU/CSU-Fraktionss­itzung im Bundestag.

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