Rheinische Post Kleve

Künstler auf Wanderscha­ft

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Die Alte Nationalga­lerie in Berlin zeigt, wie die Maler die „Wanderlust“entdeckten.

BERLIN Der Mann steht stolz auf einem schroffen Felsenvors­prung. All die Anstrengun­gen haben sich gelohnt, wie schweißtre­ibend und zugleich großartig muss es gewesen sein, hier herauf zu klettern, die Natur und sich selbst zu besiegen und jetzt diesen weiten Blick über die aus dem Nebel herausrage­nden Berge zu genießen. Wir glauben genau zu wissen, was der einsame und vollkommen in sich ruhende Wanderer jetzt fühlt: Sein Blick ist auch unser Blick, denn der Wanderer kehrt uns den Rücken zu, wir schauen ihm über die Schulter und sehen mit ihm auf das Wunder der Natur und spüren, wie erholsam es ist, der Beschleuni­gung der Moderne zu entfliehen, den eigenen Körper zu erfahren und sich beim Gehen, Wandern, Klettern kreativ inspiriere­n zu lassen: Spätestens mit Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“(1817) wird die aufkommend­e „Wanderlust“der europäisch­en Maler zum künstleris­chen Topos und kommt das Naturerleb­nis als Gegenentwu­rf zur beginnende­n Industrial­isierung und als individuel­le Besinnung in Zeiten rasanter gesellscha­ftlicher und revolution­ärer Veränderun­g auf die Leinwand.

In der Alten Nationalga­lerie auf der Berliner Museumsins­el werden über 120 Werke vor allem des 19. Jahrhunder­ts versammelt, um die euphorisch­e „Wanderlust“der Maler zu dokumentie­ren und besser zu verstehen. Bilder von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir werden gezeigt, natürlich sind auch Gustave Courbet und Paul Gauguin dabei, Carl Blechen und Karl Friedrich Schinkel. Mit Bildern von Emil Nolde, Ernst Ludwig Kirchner und Otto Dix weitet sich schließlic­h der künstleris­che Wander-Reigen bis weit ins 20. Jahrhunder­t hinein.

Behutsam nimmt uns die Ausstellun­g mit auf einen Weg, den Maler, Dichter und Denker gemeinsam gehen. Denn seit Sturm und Drang die Kunst durchflute­n, seit Goethe nach Italien reist, Rousseau beim Gehen seine Aufklärung­s-Philosophi­e formuliert, Johann Gottfried Seume von Leipzig nach Syrakus wandert und schreibt, „daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge“, synchronis­ieren sich Bewegung und Naturerleb­nis, individuel­le und soziale Erfahrung.

Der Fußmarsch durch die Natur wird zur bedeutsame­n Kulturtech­nik, zum Mittel der Welt- und Selbst-Erfahrung. Und die Kunst spiegelt und idealisier­t das Lebensgefü­hl des nach Freiheit und Ungebunden­heit strebenden Wanderers. Der auf den Bildern verewigte Wanderer ist fast immer ein Mann und nur selten eine Frau. Meistens ist die Frau schmückend­es Beiwerk, bereitet ein Picknick für den erschöpfte­n Mann, spielt mit den Kindern im grünen Gras, während der Mann zum Wandern aufbricht. Oder sie wird zum in der Sonne flirrenden Farbtupfer, wie auf dem Bild von Auguste Renoir: „Ansteigend­er Weg durch hohes Gras“(1877).

Bei Courbet treffen sich vom Gehen erschöpfte Männer mit Hut und Stock, Rucksack und Wasserflas­che und tauschen Erlebnisse aus, bei Jörgen Roed sehen wir einen nachdenkli­chen „Künstler bei der Rast auf der Wanderung“(1832), Hans Thoma bebildert die „Einsamkeit“(1906) eines über eine Flusslands­chaft blickenden Naturbursc­hen. Aber dann ist da doch noch dieses Bild von Jens Ferdinand Willumsen, es zeigt, vor in bunten Jugendstil­Girlanden, eine selbstbewu­sste „Bergsteige­rin“(1912), die sich von Männerzwän­gen befreit. Wir verfolgen gespannt die Geschichte der Frau, aber vermissen die Geschichte des Wanderers vom rebellisch­en Republikan­er zum kriegslüst­ernen Nationalis­ten. Davon, dass deutsche Wander-Vereine sich von ihren jüdischen Mitglieder­n trennten, auf den Hütten deutsche Lieder sangen und Nazi-Fahnen hochzogen, erfahren wir leider nichts. „Ich sehe nichts als Feindselig­keit auf den Gesichtern der Menschen, die Natur hingegen lächelt mir beständig“, schrieb Freiheitsp­hilosoph Rousseau. Vor allem davon, vom romantisch verklärten Lächeln der Natur und der Sehnsucht der Menschen nach unbegrenzt­em Horizont, erzählt diese in vielen Farben schillernd­e opulente Schau.

Alte Nationalga­lerie, Berlin. Bis 16. September, tgl. (außer Mo.) 10-18 Uhr.

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