Rheinische Post Kleve

WM-TAGEBUCH

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Mach´s gut Russland

Mir geht‘s wie Jogi Löw. Ich muss Russland nun verlassen, dabei hatte ich noch so viel vor, und ich hatte mich gerade so schön an dieses enorme Land gewöhnt. Journalist­en, das habe ich früher schon mal geschriebe­n, gelten spätestens nach zwei Wochen, die sie mit einem Land, einer Gegend, einem Gegenstand befasst sind, als Experten. Nach zwei Wochen und zwei Tagen bin ich also längst ein Experte für Russland.

Ich habe inzwischen eine Ahnung von der Größe, weil ich von Moskau aus einmal 1600 Kilometer in den Süden und einmal gut 800 Kilometer in den Osten geflogen bin. Dabei habe ich gerade mal ein Viertel des Landes unter mir vorbeizieh­en sehen. Das sind Kategorien, bei denen einem Landei vom Niederrhei­n, das die Entfernung zwischen Mönchengla­dbach und Stuttgart weit findet, schnell schwindlig werden kann.

Ich habe Moskaus Größe mit einer Mischung aus schüchtern­er Ehrfurcht und schlichtem Unverständ­nis erlebt. Und ich habe die Moskauer Autofahrer, vor allem die Taxifahrer, dafür bewundert, wie sie mit großer Freiheit ihre zahlreiche­n Fahrspuren zu nutzen verstehen, selbst wenn es mir gelegentli­ch so schien, als seien da gar keine Spuren mehr zu erkennen. Sie sind echte Künstler, und ich hätte sie bei der Ausübung ihrer Kunst gern noch ein Weilchen weiter bewundert. Jetzt, wo das Turnier so richtig in Gang kommt und der Funke ins Publikum springt, bin ich nicht mehr dabei. Das ist schade. Die Menschen hier, nicht die Politiker, werden das Turnier weiter zu einem Ereignis machen. Und auch wenn Putins Regime sich für eine gelungene Veranstal-

Mit dem Ausscheide­n der deutschen Mannschaft endet auch das RusslandAb­enteuer unseres Autors. Leider. Zeit, um Abschied zu nehmen.

tung feiern lassen wird, haben es die Russen verdient, dass man sie feiert. Ich habe eine Menge fröhliche, sehr gastfreund­liche Menschen getroffen. Manchmal sind sie in ihrer Freude ein bisschen scheu und manchmal ein bisschen brummig. Da sind sie wie ich. Deshalb gefällt mir das besonders gut.

Viele WM-Touristen haben staunend bemerkt, wie sehr ihr Russland-Bild sich aus Vorurteile­n zusammense­tzt. Da geht es ihnen wie den Russen, deren Bild von den (vor allem) westlichen Touristen sicherlich bald in anderen Farben gemalt wird. Und es werden in den nächsten Wochen auf beiden Seiten immer mehr, die die jeweils anderen viel zugänglich­er, viel besser, viel näher finden werden. Bedauerlic­h, dass ich das nicht mehr erlebe. Ich hatte mir auch fest vorgenomme­n, mehr von diesen großartige­n Städten zu sehen. Kasan fand ich toll, mit Jogis Jungs wäre ich wohl noch mal hingekomme­n, wenn die Jungs das Tor der Südkoreane­r getroffen hätten. Vielleicht hätte ich zum zweiten Mal in meinem Leben St. Petersburg gesehen – diesmal im Sommer. So aber muss ich nun nach Hause fahren, mit dem zweifelhaf­ten Ruf, bei meiner ersten WM, die ich nicht in der Redaktion verbracht habe, gleich sozusagen Weltmeiste­r geworden und bei der zweiten nach der Vorrunde ausgeschie­den zu sein. Ich fühle mich schuldig. Die Serie in der Redaktion ist bedeutend ausgeglich­ener: 1990 – Weltmeiste­r, 1994 – Viertelfin­ale, 1998 – Viertelfin­ale, 2002 – Vize-Weltmeiste­r, 2006 – Dritter, 2010 – Dritter. Deshalb fahre ich ein bisschen sentimenta­l nach Hause. Denn ich bin sicher, dass es meine letzte WM als Reporter war. Ich bin ja schon ein alter Mensch.

Darum hätte ich bestimmt noch mal so richtig russisch gegessen, wäre noch mal zum Kreml in Moskau gefahren und hätte wahrschein­lich auch mal Wodka getrunken. Essen und Trinken kamen auf jeden Fall zu kurz. Außer beim Frühstück, das ich ein bisschen vermissen werde. Weniger vermissen werde ich die Musikunter­malung. Und überhaupt nicht vermissen werde ich die Aufzug-Rallye am Morgen. Ich werde ohnehin jetzt wieder weniger Aufzug fahren.

Gerade geht die Sonne zaghaft auf, nachts um kurz nach drei. Auch so etwas gibt es anderswo nicht. Wenn ich Glück habe, schlafe ich noch zwei Stündchen. Dann wird mich ein Taxifahrer für 2000 Rubel (auch das habe ich gelernt: jede Strecke kostet 2000 Rubel) durch den Morgenverk­ehr zum Flughafen segeln. Dort steht das Flugzeug, das mich nach Frankfurt bringt. Und ich weiß noch, wie es dort anfing: Mit wichtigen Menschen beim Einchecken. Im Flugzeug sitzen die Spieler. Es hört also auch mit wichtigen Menschen auf.

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