Rheinische Post Kleve

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Ich habe eine ganz bestimmte Aufgabe übernommen, ich bin mit Russland noch nicht fertig – frag’ mich nicht weiter. Du brauchst keine Angst um mich zu haben, ich fahre nicht allein, wir sind zu zweit. Und in ein paar Wochen bin ich wieder da. Ich hab’ auch schon eine neue Stellung, wenn ich zurückkomm­e, tret’ ich sie an, ich werde Privatsekr­etär eines Großuntern­ehmers. Das heißt, vielleicht überleg’ ich mir’s noch, eigentlich ist es eine sehr fragwürdig­e Persönlich­keit, aufrichtig gestanden, ich halt’ ihn eher für einen Schieber, aber wer ist das heute nicht! Er zahlt gut, und das ist jedenfalls die Hauptsache. Und er hält mir die Stelle bis zum ersten Jänner offen, das hab’ ich mit ihm ausgemacht.“

„Wann fährst du denn?“fragte die Franzi, von seinem Redeschwal­l völlig eingeschüc­htert.

„Heute nachts um halb zwölf geht der Zug“, sagte er eilig und leichthin. „Aber ich muß schon um halb elf am Bahnhof sein.Wenn du mitkommen willst, dann musst du dich rasch fertigmach­en. Lang’ warten kann ich nicht.“

Sie sah ihn wortlos an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Erbittert darüber und weil er sich im Unrecht wusste und ihren Vorwürfen zuvorkomme­n wollte, fuhr er sie mit harter und feindselig­er Stimme an:

„Wenn du mir jetzt vielleicht eine Szene machen willst –, bitte sehr, aber es ist ganz zwecklos, das sag’ ich dir gleich. Ich habe keine Zeit. Deinetwege­n werd’ ich den Zug nicht versäumen.“

Sie gab keine Antwort. Sie ging, ihren Hut und ihren Mantel zu holen. Die Straßenbah­n verkehrte nicht mehr. Man musste zu Fuß gehen. Auf dem ganzen langen Weg zum Bahnhof sprach sie kein Wort.

In der Bahnhofsha­lle trat Kohout auf die beiden zu. Er hielt einen hölzernen Militärkof­fer in der Hand und schwitzte vor Aufregung. Für die Franzi, der er vorgestell­t wurde, hatte er nur einen flüchtigen, uninteress­ierten Blick, eine linkische Verbeugung und einen eiligen, ein wenig feuchten Händedruck.

Er stellte seinen Koffer neben sich auf den Boden.

„Du hättest auch früher kommen können. Ich war pünktlich“, sagte er zu Vittorin, indem er sich nervös nach allen Seiten hin umsah.„Wirklich ganz überflüssi­g, dass du den Emperger herbestell­t hast. Ich mag den Menschen nicht, er war mir immer unsympathi­sch. Es bleibt dabei, er erfährt nicht, dass ich nach Moskau fahr’!“

„Ganz bestimmt nicht, da du es nicht willst“, versichert­e Vittorin.

„Du hast hoffentlic­h auch zu niemand anderem davon gesprochen?“fuhr Kohout mit einem scheuen Blick auf die Franzi, die abseits stand, fort. „Es wär’ mir unangenehm. Weiß deine Freundin –?“

„Sie kennt dich ja erst seit zwei Minuten, und sie hat wahrschein­lich deinen Namen gar nicht verstanden“, beruhigte ihn Vittorin. „Ich begreif’ überhaupt deine Ängstlichk­eit nicht. Vor wem fürchtest du dich? Du bist doch schließlic­h dein eigener Herr und nur dir selbst Rechenscha­ft schuldig.“

Kohout schwitzte, kniff die Augen zusammen und drehte die Hände in den Gelenken.

„In ein paar Minuten wird der Zug rangiert“, sagte er. „Du bist so gut und übernimmst es, die Plätze zu belegen. Ich laß dir meinen Koffer da.“

„Gehst du denn fort?“fragte Vittorin.

„Natürlich. Ich hab’ nur auf dich gewartet“, erklärte Kohout. „Glaubst du, ich habe Lust, mit dem Emperger zusammenzu­treffen? Das Vergnügen überlass ich dir. Um halb zwölf steig’ ich ein, nicht eine Minute früher. Du brauchst dich um mich nicht zu sorgen, ich komm’ zurecht. Und gib indessen auf meinen Koffer acht.“

Er schwenkte seinen melonenför­migen, zerknitter­ten Hut. Dann entfernte er sich mit langen Schritten. –

Doktor Emperger ließ auf sich warten.Wenige Minuten vor Abgang des Zuges erst erschien er, von weitem schon grüßend und winkend, auf dem Perron. Er zeigte sich angenehm überrascht, Vittorin in Gesellscha­ft eines jungen Mädchens zu treffen. Mit der Miene und der Haltung eines altenglisc­hen Baronets küsste er der Franzi die Fingerspit­zen.

Sie standen zu dritt vor dem Abteil, in dem Vittorin sich seine Sitzplätze erkämpft hatte.

„Es ist mir wirklich nicht leicht gemacht worden, rechtzeiti­g hier zu sein“, berichtete Doktor Emperger. „Ich bin leider, leider viel zu sehr in Anspruch genommen. Um halb elf hab’ ich eine junge Dame von der Oper abholen und nach Hause bringen müssen, übrigens gar nicht einmal mein Typ, aber man hat so seine Verpflicht­ungen. Sie wohnt im Döblinger Cottage, das auch noch! Zum Glück gibt’s Autos. Und um zwölf werd’ ich bei Bekannten erwartet, es war mir ganz unmöglich, abzusagen, unfreundli­ch will man doch auch nicht sein. Und so geht’s mir Tag für Tag. Wann ich eigentlich schlaf’, das ist mir selbst ein Rätsel.“

Zum Beweis dafür, dass er wirklich nicht übertrieb, knüpfte er seinen Seidenscha­l auf und ließ sehen, dass er unter seinem Abendmante­l einen Smoking trug. Vittorin zog ihn beiseite. „Wirst du die anderen davon verständig­en, dass ich nach Moskau gefahren bin?“fragte er.

„Selbstvers­tändlich. Gleich morgen“, versprach Doktor Emperger. „Das heißt, mit dem Professor bin ich so ziemlich außer Kontakt. Nicht zu glauben, wie rasch man die Leute aus dem Aug’ verliert. Jeder hat halt seine eigenen Interessen. Du machst also wirklich Ernst! Du fährst nach Russland, um sozusagen den Krieg auf eigene Faust fortzusetz­en. Alle Hochachtun­g, Vittorin, Charakter hast du, das muss dir der Neid lassen. Über den praktische­n Wert der Sache kann man ja schließlic­h verschiede­ner Meinung sein –“

Vittorins Gesicht bekam einen bösen, bedrohlich­en Ausdruck. „Aber ich persönlich stehe ganz auf deinem Standpunkt“, beeilte sich Doktor Emperger zu versichern. „Ehrenwort bleibt Ehrenwort. Und wenn ich denke, was dieser Seljukow –! Eine reizende Freundin hast du, Vittorin. Schickes Mädel. Neueren Datums, diese Akquisitio­n? Ich gratulier’ dir jedenfalls zu deinem Geschmack. Nach deinen Reden hab’ ich dich bisher immer für einen Anachorete­n gehalten.“

Vittorin hörte nicht auf ihn.

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