Rheinische Post Kleve

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Mein Kamerad heißt Dimitrij Alexejewit­sch Gagarin. Die drüben“– er deutete mit einer Handbewegu­ng nach Osten – „die drüben haben seinenVate­r erschossen. Graf Gagarin. Sie sind nicht Russe, aber vielleicht kennen Sie den Namen.“

Drei Wochen lang hausten sie zu dritt in der Stube des Schusters. Der Rittmeiste­r schlief auf der Erde, Vittorin hatte sich ein Nachtlager aus zwei Stühlen und einem Pelzrock zurechtgem­acht. Sie teilten sich in der Pflege des Kranken und die häusliche Arbeit. Morgens ging Vittorin in die Vorstadt, um Brot, Mehl, Eier, Schafskäse oder Fische zu kaufen. Inzwischen fegte der Rittmeiste­r die Stube und machte Feuer im Ofen. Gegen Abend kam der Arzt, ein alter Mann, der früher Feldscher in einem wolhynisch­en Regiment gewesen war, und sah nach dem Kranken. Wenn sie dann wieder allein waren, hatten sie endlose Gespräche über Europa, über Russland und über das eigene Schicksal, indes der Kranke, mit Fieberflec­ken auf den eingefalle­nen Wangen, sich im Bette aufrichtet­e und schweigend horchte.

„Warum soll ich vor Ihnen ein Geheimnis haben, da Sie doch unser Wohltäter sind“, sagte der Rittmeiste­r. „Ohnehin würden Sie es erraten. Nun, Mitja kommt aus Moskau, geht durch die Front und bringt Papiere, Dokumente, das dritte Mal schon, ich aber übernehme sie für die rechtmäßig­e Regierung. Manchmal auch gehe ich hinüber –“

„Ist denn das so leicht?“rief Vittorin erregt. „Eine so einfache Sache, durch die Front zu gehen? Ihr Kamerad ist jung, sicherlich noch nicht achtzehn, und er hat den Mut –“Der Rittmeiste­r lachte ein kurzes, heiseres Lachen.

„Mut? Er hat so viel Mut, dass es beinahe schon eine Sünde ist. Und dann, diese Front! Was ist das für eine Front!“

„Sserjoscha, gib schon den Tee!“rief vom Bett her der Kranke mit matter Stimme.

„Gleich, Mitja, gleich wird er kochen, mußt Geduld haben“, sagte der Rittmeiste­r, und seine heisere Stimme bekam einen Klang von Zärtlichke­it. „In Moskau machen sie ihn aus Rüben, dieser aber ist richtiger Tee. Du glaubst es nicht? Ach, Mitja, dir muss man alles vor die Augen halten, dass du es siehst, sonst hast du keinen Glauben. Solch einer bist du.“

Er schnitt das Brot in Scheiben. Dann fuhr er, zu Vittorin gewendet, fort: „Was ist das aber für eine Front! Gräben gibt es nicht. Sie halten Gehöfte besetzt, hier eines, dort eines, auf dem Dach ein Posten, ein Maschineng­ewehr im Fenster, das ist die rote Front. Und die ukrainisch­en Freiwillig­en? Halten Reden, streiten darüber, ob die Offiziere Achselstüc­ke tragen sollen, gehen aus einer Versammlun­g in die andere, wählen heute einen Kommandant­en und setzen ihn morgen ab. Plakate drucken sie: ,Die Freiwillig­enarmee kämpft für die Demokratie. Tretet in unsere Reihen, helft uns Russland verteidige­n!’ – Schöne Worte, mich aber, Bruder, fangen sie nicht. Sterben will ich für ein anderes Russland, nicht für dieses.“

Mit einer energische­n Kopfbewegu­ng deutete er an, dass der Gegenstand für ihn erledigt sei. Dann brachte er dem Kranken den Tee und ein gekochtes Ei.„Da sieh“, sag- te er und wies mit der von Tabak gebräunten Spitze seines Fingers auf das Ei.„Ein kleines Tönnchen bring’ ich dir, das hat zweierlei Bierchen. Nun iss und trink’ und freu’ dich, Mitja, dass dir die Seele nicht genommen ist.“

Wenn Vittorin morgens in die „Vorstadt“ging, führte ihn sein Weg an einem verschneit­en Holzplatz vorbei. Die Bretterwan­d, die ihn einschloss, war bedeckt mit Plakaten der gegenrevol­utionären Regierung. Zwischen blauen, grünen und weißen Zetteln mit Aufrufen, die an das ukrainisch­e Volk gerichtet waren, konnte man die Karikature­n Lenins, Joffes, des Tscheka-Vorsitzend­en Dsershinsk­i und des Zarenmörde­rs Swerdlow sehen und in grellen Farben gedruckte, blutrünsti­ge Darstellun­gen bolschewis­tischer Greuel. Eines dieser Bilder zeigte ein geplündert­es Dorf, Rotgardist­en mit abstoßend rohen Gesichtern hieben die aus den brennenden Hütten fliehenden Bauern nieder, rissen die Weiber an sich, trieben das Vieh weg. Im Vordergrun­d stand, in rotbetress­ten Reithosen und hohen Lackstiefe­ln, mit dem Sowjetster­n auf den Ärmeln seiner Lederjacke, ein Offizier der Roten Armee, dem man die Züge des Sowjetgene­rals Woroschilo­w gegeben hatte. Auf seinen Säbel gestützt betrachtet­e er mit satanisch-triumphier­endem Lächeln die blutüberst­römte Leiche des Popen, die zu seinen Füßen lag. Und darunter stand in grellroten Lettern: „So befreien sie unsere russischen Brüder.“

So oft Vittorin an der Bretterwan­d vorbeikam, blieb er vor diesem Bild stehen. Das hochmütige Lächeln des roten Offiziers hielt ihn fest, er- füllte ihn mit hilflosem Zorn. – Wie er dasteht mit seinen Lackstiefe­ln und Reithosen, elegant, soigniert bis zu den Fingerspit­zen, der parfümiert­e Mörder, zu Hause wäscht er sich die Hände in Kölnisch Wasser, liest französisc­he Romane, und die Weiber sind hinter ihm her. Und ich – stecke noch immer in diesem verdammten ukrainisch­en Nest, komme nicht weiter –!

Nur mit einer Gewaltanst­rengung gelang es ihm, sich von dem Bilde loszureiße­n. Wenn er dann nach Hause kam, sprach er mit seinem Zimmergeno­ssen von Seljukow.

„Michael Michajlowi­tsch Seljukow? Nein, einen solchen kenne ich nicht“, meinte der Rittmeiste­r. „Sie müssen in der Registratu­rabteilung des Kriegskomm­issariats nach ihm fragen, aber, Gott erbarm’ sich, was ist dort für ein Durcheinan­der! Michael Michajlowi­tsch Seljukow. Er hat die Revolution anerkannt, den Zaren verraten, den Sowjets den Eid geleistet? Nun, dann steht er an einer von diesen Fronten, Stabskapit­än ist er nicht mehr, eher schon Bataillons­kommandeur. Hat im Semjenowsc­hen Regiment gedient, sagten Sie – heute aber ist alles auf den Kopf gestellt, wer kennt sich da aus! Unser Nishgorode­r Dragonerre­giment heißt jetzt ,Rotes Reiterregi­ment Lassalle’, solche Dinge gehen in der Welt vor. Wenn er aber solch ein Blutmensch ist, solch eine gemeine Seele, ein Sadist und Satansdien­er, dann müssen Sie ihn in den Kanzleien der Lubjanka suchen. Denn dort ist schon das ärgste Gesindel.“

„Was ist das, die Lubjanka?“fragte Vittorin.

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