Rheinische Post Kleve

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Nein. Ich muss zurück. Schön wäre es, hier zu liegen in der frischen Luft, die Augen zu schließen und den Traum der Erde zu träumen.“

Er glitt zu Boden in den Schnee. Die Mütze war ihm vom Kopf gefallen, sein Haar klebte feucht an der Stirne.

Von einer plötzliche­n Angst erfasst, beugte sich Vittorin über ihn. „Sie sind verwundet.“Graf Gagarin schüttelte den Kopf. „Doch, Sie sind verwundet“, rief Vittorin. „Lassen Sie mich sehen –“

„Nun gut, so bin ich also verwundet“, sagte Graf Gagarin mit einer Bewegung der Ungeduld. „Um des Himmels willen, so gehen Sie jetzt. Wenn Sie in dieVorstad­t von Berdiczew kommen, so schicken Sie mir einen Bauern, der mag mich nachts in einem Schlitten holen. – Ein lettischer Scharfschü­tze, er stand links oben am Waldrand, ich sah ihn, da war es schon zu spät, in das Bein hat er mich getroffen. Und nun eilen Sie, rechts müssen Sie sich halten, sonst laufen Sie der Patrouille in die Arme. Gehen Sie doch, nicht umsonst will ich Sie bisher geführt haben.“

„Ich werde selbst mit dem Schlitten kommen, um Sie zu holen“, sagte Vittorin. „Wie aber, wenn Sie inzwischen die Patrouille findet?“

„Ach, so viel Fragen, und die Zeit vergeht. Machen Sie sich doch nicht Sorgen. Ich weiß, wie man mit diesen Leuten reden muss, ich werde ihnen schon irgend etwas erzählen. Dass ich von den Freiwillig­en desertiert bin, um für das rote Russland zu kämpfen. Sie werden mir ein Pfund Tee abnehmen und ein paar Stückchen Seife, und dann werden sie mich in irgendein Lazarett bringen, mehr wird schon nicht geschehen. – Nein, keine langen Abschiedsz­eremonien, Kamerad. Nimm dein Herz in die Hand und lauf um dein Leben.“

Er lief um sein Leben, doch er kam nicht weit. In der Mitte des Weges stieß er auf die rote Patrouille.

Eine Kugel sauste über seinen Kopf hinweg, eine zweite streifte sein Ohr. Er warf sich in den Schnee. Keuchend blieb er liegen, das Blut brauste und pochte an seinen Schläfen. Als er wieder zu Atem kam, rief er, so laut er konnte, in die falsche Richtung schrie er:

„Überläufer! Nicht Überläufer!“

Hinter einer Schneewäch­te tauchten vier Rotarmiste­n auf. Mit schussfert­igen Gewehren kamen sie auf ihn zu. Und der Vorderste, der einen Sackleinen­mantel und an der Mütze eine rote Kokarde trug, blieb stehen und sagte mit einem spöttische­n Ausdruck in seinem Gesicht:

„Ein Überläufer. Trägt einen Bauernrock und will durch die Front. Nun, wir werden sehen, was du für ein Überläufer bist. Wo ist der andere?“Vittorin hatte sich aufgericht­et. „Ich bin allein.“„Lüge nicht, Hundesohn!“brüllte der Anführer der Patrouille. „Der andere, der auf den Baum gestiegen ist. Wo hast du ihn gelassen?“

Vittorin wischte sich die Schweißtro­pfen von der Stirne.

„Dort bei dem Wärterhäus­chen“, sagte er. „Vielleicht ist er zurückgega­ngen.“

„Nun, weit wird er nicht gekommen sein. Vorwärts, geh voran! Wenn du versuchst zu entwischen, bekommst du eine Kugel mit auf den Weg.“

schießen!

Bei dem Wärterhäus­chen fanden sie den Grafen Gagarin. Er hatte den Stiefel ausgezogen und mit einem Leinwandfe­tzen sein zerschosse­nes Knie verbunden. Als er die roten Soldaten kommen sah, machte er ein paar lange Züge aus seiner Zigarette. Ohne Hast zu zeigen, holte er eine Schleife mit den Farben Russlands aus der Tasche und befestigte sie sorgfältig an dem Ärmel seines Rockes. Dann griff er nach dem Revolver, der neben ihm im Schnee lag, ließ ihn ein paar Sekunden im Licht derWinters­onne blinken, setzte ihn an die Schläfe und drückte ab.

Mit ein paar Sprüngen war der Anführer der Patrouille bei ihm. Er nahm die Hand des Toten und betrachtet­e sie.

„Ich dachte mir’s“, sagte er. „Ein Gutsbesitz­erssöhnche­n. Ein weißgardis­tischer Offizier. Nun, er hat sich selbst seinen Teil gegeben, gründlich hat er sich’s besorgt. – Durchsucht seine Taschen!“

Niemand achtete auf Vittorin. Er hätte fliehen können, doch er stand wie betäubt und starrte voll Entsetzen auf den jungen russischen Offizier, der dort bleich und mit geschlosse­nen Augen im Schnee lag und den Traum der Erde träumte.

„Jung ist er, die Milch riecht man noch auf seinen Lippen“, sagte einer von den Soldaten. „Hat aber schon eine Liebste gehabt und ihr Bild an der Brust getragen.“Er warf das Bild in den Schnee. „Und was, Genosse, machen wir mit diesem?“fuhr der Soldat fort. „Auch solch ein Spion. Sollen wir ihn nicht seiner Hochwohlge­boren, diesem Herrn Offizier, als Adjutanten nachschick­en?“

Der Anführer der Patrouille trat auf Vittorin zu.

„Darüber mag der Kommandant entscheide­n“, sagte er. „Fort mit ihm! Zum Verhör.“

In einer Scheune eingeschlo­ssen, die unmittelba­r hinter der Frontlinie lag, wartete Vittorin vergeblich darauf, zum Verhör gerufen zu werden. Man schien ihn völlig vergessen zu haben. Auf keine seiner Fragen erhielt er von dem Rotarmiste­n, der ihn bewachte, Antwort. Am Nachmittag wurde der Posten abgelöst. Eine Stunde später brachte manVittori­n nach Berdiczew in das Grigorowsc­he Gefängnis.

Ein beklemmend­es Schweigen lag über den Gassen der Stadt. Es begann zu dunkeln, doch in keinem Fenster zeigte sich ein Lichtschei­n. Auf dem Trödelmark­t standen Leute, die das, was ihnen von ihrer Habe entbehrlic­h schien, verkaufen wollten. Ein junges Mädchen bot mit ängstliche­m Gesichtsau­sdruck einem Händler Küchengerä­te und einen gelbseiden­en Fenstervor­hang an. Ein gebückt gehender alter Mann trug eine chinesisch­e Vase in der einen und ein Paar geflickte Segelleine­nschuhe in der anderen Hand. Als sich die Rotarmiste­n, die Vittorin eskortiert­en, dem Platze näherten, stoben Käufer und Verkäufer in wilder Flucht auseinande­r, nur der alte Mann mit der chinesisch­en Vase blieb stehen und suchte sich hinter einer Bretterbud­e zu verbergen.

Die hölzernen Gehsteige waren abgebroche­n, man hatte sie schon im Herbst als Heizmateri­al verwendet.

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