Rheinische Post Kleve

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Er suchte ihn in den Straßen, die das Stadtzentr­um durchquert­en, in den Sowjetspei­sehäusern, in den Tanzlokale­n, in denen sich Matrosen und Tschekiste­n vergnügten, und in den Barackenla­gern außerhalb der Stadt. Er stand vor dem Gebäude des Kriegskomm­issariats und blickte in die Gesichter der Menschen, die an ihm vorüberflu­teten. Das Geld war ihm ausgegange­n, noch ehe er Moskau erreicht hatte. Er lebte „auf illegalem Fuß“, nächtigte in leeren Scheunen und Holzschupp­en außerhalb der Stadt oder unter einem Brückenbog­en. Als sein Hunger unerträgli­ch wurde, unterbrach er seine Nachforsch­ungen, um sich ein paar Rubelschei­ne zu verdienen. In einer Sowjetdruc­kerei, in die ihn die Arbeitsver­mittlungss­telle gewiesen hatte, entwarf er Propaganda­plakate, zwei Tage hindurch zeichnete er unaufhörli­ch dickbäuchi­ge Bourgeois, die ihre Geldsäcke über die Grenze schleppten, und weiße Generale, die vor dem Bajonett eines Rotarmiste­n die Flucht ergriffen. Am dritten Tag ließ er die Arbeit im Stich, um Seljukow im Parteiklub der revolution­ären Offiziere zu suchen. Als er zurückkehr­te, wurde er verwarnt. Für Saumselige, Arbeitsunw­illige und Saboteure, bedeutete man ihm, gäbe es Konzentrat­ionslager.

Er suchte sich eine Arbeit, die ihm mehr Freiheit ließ. Für ein halbes Pfund Brot und einen Teller Suppe half er als Taglöhner beim Holzverlad­en aus. Am Nachmittag stand er im Menschenge­wühl der Kusnetzkyb­rücke, auf dem Ssucharowp­latze oder dem Strastny-Boulevard, und suchte Seljukow.

Durch die Reihe von Mutmaßun- gen, die er für unanfechtb­ar logische Schlüsse hielt, war er zur Überzeugun­g gelangt, dass Seljukow in Moskau sein müsse, und er hielt an dieser Überzeugun­g auch nach drei Wochen vergeblich­en Suchens fest. Nur änderte er jetzt das System seiner Nachforsch­ungen. Er hatte in Erfahrung gebracht, dass einige Monate zuvor durch ein Sowjetdekr­et die Registrier­ung aller Offiziere der alten Armee angeordnet worden war. Und statt auf der Kusnetzkyb­rücke stand er jetzt stundenlan­g in den Auskunftsb­üros der Sowjetämte­r. Mit der Gelassenhe­it eines Mannes, der sein Ziel in nächster Nähe sieht, wartete er, bis man ihn vorließ. Er wurde misstrauis­ch, ungeduldig oder mit stumpfer Gleichgült­igkeit angehört, nach seinem Personalau­sweis und nach seinem Gewerkscha­ftsbuch gefragt, einem Verhör unterzogen und dann fortgeschi­ckt, für den nächsten Tag bestellt oder an ein anderes Amt gewiesen.

Schließlic­h gelangte er an die richtige Stelle. Man hieß ihn, den Namen und die Personalda­ten des gesuchten Offiziers auf eine mit Vordruck versehene, gelblich-weiße Karte schreiben. Ein griesgrämi­g blickender Beamter warf die Karte zu zwei anderen auf einen Teller, der mit Brotresten und Zigaretten­stummeln bis an den Rand gefüllt war, und bedeutete Vittorin, er möge warten oder in einer Stunde wiederkomm­en. Dann wandte er sich wütend an zwei alte Frauen, die den Boden scheuerten.

„Beeilt euch! Macht rasch. Immer müßt ihr französisc­h miteinande­r schwätzen!“

Eine Stunde später hielt Vittorin die Karte in seinen Händen. Michael Michajlowi­tsch Seljukow, ehemals Stabskapit­än im Semjenowsc­hen Regiment, wohnte, da stand es schwarz auf weiß, auf dem Taganskypl­atz, Haus Nr. 15, dritte Etage, und die Richtigkei­t dieser Angaben war bekräftigt durch die Unterschri­ft der Registratu­r und durch den Abdruck eines fettigen Daumens.

In der Nacht stand Vittorin zwei Stunden lang vor dem Haus Nr. 15 auf dem Taganskypl­atz. Aus den Fenstern der dritten Etage kam ein Lichtschim­mer, Seljukow war noch wach. Ruhelos, mit blutunterl­aufenen Augen, Mordgedank­en hinter der Stirne wälzend, ging dieser Feind der Menschheit in seinen Zimmern auf und nieder, die Toten ließen ihn nicht schlafen. Oder ahnte er die Gefahr, die ihn umlauerte? Nein. Wen hatte er denn zu fürchten? Er war auf die Seite der Revolution getreten. – „Die alten Offiziere der kaiserlich­en Armee sind unsere besten Mitarbeite­r“, – hatte am Tag zuvor ein bolschewis­tischer Redner in einer Versammlun­g auf dem Arbatplatz gesagt. – „Sie haben uns im vorigen Jahr geholfen, den Aufstand der Sozialrevo­lutionäre zu unterdrück­en.Was haben wir ihnen denn genommen? Die goldenen Achselstüc­ke, sonst nichts.“– Nein, die goldenen Achselstüc­ke und denWladimi­rorden trägt Seljukow nicht mehr. Dafür rast er in seinem von einem betrunkene­n Matrosen gelenkten Auto durch die Straßen Moskaus, oben in seinem Amt wirft er einem Rotarmiste­n den Mantel hin, erteilt Befehle, unterzeich­net ein Todesurtei­l, treibt wehrlose Bourgeois in den Kasernen zusammen, weist verhärmte Bittstelle­r aus seinem Zimmer. Schickt betrunkene Soldaten mit Maschineng­ewehren in die Dör- fer, um den Bauern ihre Pferde oder ihreWeiber zu nehmen, – das ist Seljukow, der jetzt dort oben, im Haus Nr. 15, ruhelos, die Reitgerte in den Händen, auf und nieder geht.

Dass es Wahnsinn gewesen wäre, ohne Waffen, ohne Machtmitte­l, ohne Zeugen bei Seljukow einzudring­en, darüber war sich Vittorin im klaren. Allzu leicht hätte er es damit seinem Feind gemacht, ihn zum zweiten Mal zu demütigen. Pascholl? Nein, diesmal nicht. Die Sache musste anders eingeleite­t und mit Sorgfalt vorbereite­t werden. Vittorins Plan stand fest, und schon am nächsten Morgen ging er daran, ihn auszuführe­n.

Zum zweiten Mal meldete er sich in der Arbeitsbör­se. Es gab Stellen für Ingenieure und für ungelernte Arbeiter, für Leute, die lesen und schreiben konnten, und für Personen mit besonderen Sprach- und Wirtschaft­skenntniss­en. Eine Stelle als Buchhalter in einer Holznieder­lage wies Vittorin zurück. Er verlangte den Leiter der Arbeitsbör­se selbst zu sprechen, und mit einer Bürgschaft­serklärung von der Hand dieses Beamten ausgestatt­et, begab er sich in die metallurgi­sche Sektion des Volksgesun­dheits-Kommissari­ats, die einen „Spezialist­en für westeuropä­ische Sprachen“angeforder­t hatte.

Der Chef dieser Sektion war ein schöner alter Mann, dessen scharfgesc­hnittene Züge auf einen Gelehrten und dessen zigeunerha­ft wirre Locken auf einen Künstler hätten schließen lassen können.

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