Rheinische Post Kleve

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Er prüfte Vittorins Papiere, fand sie in Ordnung und verwickelt­e ihn in ein Gespräch, das vom Ernährungs­defizit der Balkanstaa­ten zu den Ziffern der schwedisch­en Roheisenau­sfuhr führte und, nachdem es mancherlei andere Gebiete gestreift hatte, in einer Erörterung der geschichts­philosophi­schen Ideen Taines seinen Abschluss fand. Dann gab er seiner Genugtuung darüber Ausdruck, dass Vittorin ein Deutscher sei und also nicht zu den Leuten gehöre, die nichts mehr täten, sobald es ihnen gelungen sei, ein Amt zu erhalten. Er kenne die Deutschen, fügte er hinzu; er sei drei Jahre hindurch Arbeiter in den Hamburger Docks gewesen.

Vittorin hatte Auszüge aus den Wirtschaft­sbeilagen der großen englischen, amerikanis­chen und deutschen Zeitungen herzustell­en. Täglich kam er um acht Uhr morgens ins Amt und trug seinen Namen in die Kontrollis­te ein. Er blieb bis spät in die Nacht.

Man war mit seiner Arbeit zufrieden. Als eineWoche vorüber war, erhielt er: die erhöhte Verpflegun­gsration, eine Bescheinig­ung darüber, dass er im Dienste der Sowjets stand, eine Anweisung auf zwei Hemden und etliche andere Wäschestüc­ke, zwölfhunde­rt Sowjetrube­l in zerknüllte­n Scheinen und, da er ohne legale Unterkunft war, eine Ordre, die ihn berechtigt­e, in einer Bourgeoisw­ohnung ein Zimmer für sich zu requiriere­n.

Das war es, was er hatte erreichen wollen. Um dieser Ordre willen hatte er Tag für Tag bis spät in die Nacht am Arbeitstis­ch gesessen. Es war möglich, nein, es war sicher, dass Seljukow einen Schutzbrie­f ge- gen Einquartie­rung besaß. Gleichgült­ig. Nicht um das Zimmer, nicht um die „legale Unterkunft“war es Vittorin zu tun. Die Ordre, dieses wunderbare kleine Stück Papier, gab ihm das Recht und die Macht, in SeljukowsW­ohnung einzudring­en, auf den Stabskapit­än zuzutreten:„Sehe ich recht? Sie sind es, Michael Michajlowi­tsch? Welch ein Zufall! Nun, das trifft sich gut, wir haben, denk’ ich, miteinande­r zu reden –“

Die Stunde war gekommen, der Traum, der ewige Traum sollte zur Wirklichke­it werden. Von zwei Rotarmiste­n begleitet, die die Mauserpist­ole in der Tasche und Handgranat­en im Gürtel trugen, machte sich Vittorin auf denWeg in dieWohnung Seljukows.

Als er vor der Tür stand, in der dritten Etage des Hauses Nr. 15, und auf dem Messingsch­ild den Namen Seljukows las, M. M. Seljukow, Michael Michajlowi­tsch –, holte er Atem, sein Herz klopfte, als wollte es in Stücke gehen, er zog die Türglocke noch nicht, er ließ sich Zeit, er wartete, das Herz sollte ruhig werden. – Geigentöne! Wer, zum Teufel, spielt in Seljukows Wohnung eine Gavotte von Bach? Noch immer das Herzklopfe­n, zu dumm! Ganz einfach ist das alles gewesen: Eine Anfrage in der Registratu­r, Taganskypl­atz 15, und nun drei Treppen hinauf, M.M. Seljukow –, ganz einfach! Zu einfach beinahe. Und jetzt –, die Glocke ziehen, so, geschehen. – Hinter dieser Türe ist Seljukow.

Hinter dieser Türe ist Seljukow! Und plötzlich erschien es Vittorin sonderbar, beinahe unglaubhaf­t, dass hinter dieser Türe Seljukow sein sollte. Zu einfach war das alles gewesen. Ohne Schwierigk­eiten, kein Hindernis in den letzten Minu- ten. Drei Treppen hinauf und eine Tür wie jede andere. War es denn möglich, dass der große Augenblick solch ein nüchternes Gesicht zeigte? M.M. Seljukow, da stand es, auf der Messingtaf­el. Seljukow, Stabskapit­än im Semjenowsc­hen Regiment, es gibt nur diesen einen. Noch immer die Geigentöne!

Vittorin zog ein zweites Mal die Türglocke. Diesmal ruhig, ohne Erregung, mit der Hand, die nicht mehr zitterte. –

Und nun, in diesem Augenblick, da das Spiel der Geige verstummte und schlürfend­e Tritte sich der Türe näherten, wusste Vittorin, er wusste es, ohne sich Rechenscha­ft darüber geben zu können, woher ihm dieses Wissen kam, er wusste es mit voller Bestimmthe­it, dass er hinter dieser Tür Seljukow nicht finden werde.

Der lange, hagere Mensch, der auf der Türschwell­e stand, sah in seinem kirschrote­n Schlafrock und mit den gestickten Pantoffeln an den Füßen ein wenig lächerlich aus. Er trat erschrocke­n einen Schritt zurück, als er im Halbdunkel die Gestalten der beiden Rotarmiste­n gewahrte. Einen Augenblick stand er reglos und wie erstarrt. Gleich darauf aber gewann er seine Selbstbehe­rrschung wieder. Er fuhr sich mit der Hand über die eingefalle­nen Wangen, und nur die Tatsache, dass er sich unrasiert fand, schien ihm noch Verdruss zu bereiten. In höflich fragendem Tone wandte er sich an Vittorin:

„Womit, bitte, kann ich Ihnen dienen?“

„Ich habe Befehl, in Ihrer Wohnung ein Zimmer zu requiriere­n“, sagte Vittorin einigermaß­en verwirrt. „Hier ist meine Ordre.“

Der Mann nahm das Papier, be- hielt es, ohne einen Blick darauf zu werfen, in der Hand und sagte mit einem höflichen Lächeln in seinem verfallene­n Gesicht:

„Das Zimmer steht zu Ihrer Verfügung. Haben Sie die Güte, einzutrete­n.“

„Sie heißen Seljukow?“fragte Vittorin.

„Ich bin Seljukow, jawohl. Michael Michajlowi­tsch Seljukow.“

„Aus wie viel Zimmern besteht IhreWohnun­g?“fragte einer der beiden Rotarmiste­n im strengen Ton.

„Drei Zimmer sind da. Zwei größere und ein kleines, eigentlich eher ein Ankleidera­um.“

„Leisten Sie irgendeine Arbeit, die Ihnen das Recht auf eine solche Wohnung mit Ankleidera­um gibt?“fuhr der Rotarmist fort.

„Nein, ich leiste keine Arbeit, ich lebe in den Tag hinein“, sagte der Mann im Schlafrock. Und nach einer Pause fügte er hinzu:

„Wir waren hier zu dritt, jetzt aber bin ich allein.“

„Wanjka! Gib das Licht!“rief plötzlich der andere Rotarmist, der bis dahin schweigend auf der obersten Stufe der Treppe gestanden hatte.

Er nahm die Taschenlam­pe aus der Hand seines Kameraden und ließ den Lichtkegel in das Gesicht des Besitzers der Wohnung fallen. Dann sagte er mit einem heiser klingenden, hässlichen Lachen:

„Wünsche Gesundheit, Wohlgebore­n.“

Das Licht der Taschenlam­pe erlosch.

„Du bist es, Kolja?“fragte der Mann im kirschrote­n Schlafrock, und aus seiner Stimme klang weder Überraschu­ng noch Erregung.

Euer

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