Wo bleibt da unsere Menschlichkeit?
Eine kurze Begegnung mit meiner Blumenhändlerin geht mir noch nach. Wir sprachen über unsere Sorgen und über das Glück, sorgenfrei zu sein. Im Nachhinein wird mir eine aktuelle Sorge sehr groß. Ich sorge mich darum, dass wir Menschen unsere Menschlichkeit verlieren.
Vor Augen habe ich die Häfen von Valetta, der Hauptstadt der Insel Malta. Ich war selbst schon dort, als Urlauberin vor vielen Jahren. Riesige Kreuzfahrtschiffe und unzählige Segelyachten prägten das pittoreske Bild. Heute liegen mittendrin Rettungsschiffe. Festgesetzt sind sie und dürfen nicht ausfahren. Lifeline oder Sea-Watch heißen sie zum Beispiel. Aber sie dürfen ihrem Namen keine Ehre machen. Ihre Kapitäne werden wie Kriminelle vor Gerichten angeklagt. Sie dürfen nicht tun, wozu sie zusammen mit ihrer Crew ausgebildet wurden: Menschen in Seenot retten. Denn diese Menschen will niemand aufnehmen. Geflüchtete finden keine Zuflucht. In Europa nicht. Das Mittelmeer wird zum Massengrab.
Letzte Woche ist der Chef unserer Kirche, Präses und Pfarrer Manfred Rekowski, nach Valetta gereist. Durch Video-Ausschnitte nehme ich Anteil an dieser Reise. Erschüttert höre ich der Ärztin Barbara Held zu, die die Schreie Ertrinkender nicht mehr los wird. Ich lasse mich einladen zum Mitbeten an den Gräbern von 24 Ertrunkenen auf dem Hauptfriedhof Maltas. Ich unterschreibe eine Petition an die Europäische Union „Für eine christliche, menschenfreundliche und solidarische Flüchtlingspolitik in Europa“. Hier steht es: Die Abschottungspolitik Europas bedroht nicht nur das Leben ferner Menschen. Sie setzt auch unsere eigene Menschlichkeit aufs Spiel. Eines Tages werden uns die Gesichter der Ertrunkenen anklagen. Und wir können uns selbst nicht mehr ins Gesicht sehen. Ich sage: Gnade uns Gott! Und: Umkehr jetzt! Denn dafür ist es nie zu spät.
ELISABETH SCHELL, PFARRERIN IN DER EV. KIRCHENGEMEINDE KLEVE