Rheinische Post Kleve

Pfaffs Hof

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Wartet noch mit der Anprobe“, rief Tante Maaßen. „Ich hole dir schnell deine Stärkung, Schatz, es ist schon elf Uhr durch.“

Sie kam mit einem hohen Glas und einem langen Löffel drin zurück.

„Rotwein mit geschlagen­em Ei und viel Zucker, das gibt Kraft. So, ich bin schon wieder verschwund­en.“

Rohes Ei? Ich musste feste schlucken.

In der „Werkstub“war es immer sehr warm, weil Onkel Maaßen schnell fror – „wie ein Schneider“, sagte er immer und zwinkerte dabei.

Es gab zwei Schneidert­ische an beiden Seiten der Stube, drei Nähmaschin­en, einen großen Schrank, in dem Stoffballe­n lagerten, und Regale, die bis zur Decke reichten, mit Musterbüch­ern, Modezeitsc­hriften und Skizzenblö­cken. Und einen großen, meist vollen Aschenbech­er, in dem immer eine Zigarette glomm, manchmal auch zwei, wenn Onkel Maaßen vergaß, dass er sich schon eine angezündet hatte.

Onkel Maaßen musterte mich. „Warum ist sie nicht in der Schule?“

Mutter bekam rote Flecken am Hals, und mir wurde heiß.

Ich schämte mich und drehte mich weg, um aus dem anderen Fenster zu schauen, das zur Straße hinausging.

„Lehrer Janke und der neue Rektor hielten es für besser, wenn sie erst nach den Ferien wieder geht“, erklärte Mutter, aber ich hörte schon nicht mehr zu.

In unserer Dorfschule hatte es nur drei Klassenzim­mer gegeben, eines für das erste und zweite Schuljahr, eines für das dritte und vierte und eines für das fünfte, sechste, siebte und achte, nur drei Lehrer und manchmal einen Referendar.

Ich hatte furchtbare Angst gehabt, als ich in die Schule kam, ich wollte nicht von zu Hause weg, aber dann war es doch nicht so schlimm gewesen, denn Frau Henkel, die ich in den ersten beiden Schuljahre­n hatte, war lieb zu mir. Außerdem war sie jung und hübsch und hatte eine schöne leise Stimme.

Nur einmal musste ich weinen. Wir sollten für unsere Mütter zum Muttertag ein Bild malen, und ich wusste ganz genau, wie es werden sollte: Omma und ich schenken Mutter Blumen. Omma saß in ihrem Sessel, ich auf ihrem Schoß, das war mir gut gelungen, auch der Blumenstra­uß. Aber Mutter hatte viel zu lange Beine, und alles war kaputt. Frau Henkel war dann auf die Idee gekommen, dass Mutter einen Faltenrock anhaben könnte und da, wo ich die Striche für ihre Beine gemalt hatte, sollte ich einfach die Falten malen. Und alles war wieder gut.

Frau Henkel hatte mich auch oft vorlesen lassen, und sie hatte auch dafür gesorgt, dass ich mir schon im zweiten Schuljahr etwas vom großen Büchertisc­h aussuchen durfte.

Aber dann war ich dieses Jahr nach den Osterferie­n ins dritte Schuljahr gekommen und hatte zu Herrn Krüger in die Klasse gemusst. Herr Krüger war nicht jung, er hatte eine dicke rote Nase mit blauen Adern, und er brüllte die ganze Zeit und lachte böse.

Am ersten Schultag kriegte ich kaum Luft, weil er sofort mit „Wettrechne­n“anfing, das ich gar nicht kannte. Alle mussten sich hinstellen, und er brüllte Rechenaufg­aben, alles durcheinan­der: „und“, „weniger“, „mal“und „geteilt“.

Wer das Ergebnis wusste, musste es sagen –„Lauter! Ich habe schlechte Ohren“–, und wenn es richtig war, durfte man sich setzen. Ich hatte viele Ergebnisse sofort gewusst, aber ich war nie laut genug.

„Ich habe dich leider nicht verstanden, haha!“

Und alle hatten gelacht, die meisten kannten „Wettrechne­n“schon von ihren älteren Geschwiste­rn.

Dann war die kleine Pause gekommen, in der wir auf unseren Plätzen sitzen bleiben und unser Pausenbrot essen mussten. Meins war in zerknitter­tes Schwarzbro­tpapier eingewicke­lt, Stanniol und Pergament.

Ich hatte nicht essen wollen, mir war schlecht, aber Herr Krüger saß auf dem Pult und hatte ein Auge auf uns.

Er schickte einen Jungen aus dem Vierten los: „Lauf rüber zu meiner Frau und hol mir mein Frühstücks­bier!“

Seiner Frau gehörte der Dorfgastho­f.

Und dann war sein Blick auf mich gefallen. „Na los, süße Maus, iss dein Brot, wir haben nicht ewig Zeit!“

Da musste ich brechen – auf mein Brot, auf das Schwarzbro­tpapier, über den ganzen Tisch.

Und wieder hatten alle gelacht, sogar Alice, die im zweiten Schuljahr neben mir saß.

Am nächsten Tag hatte ich mich schon vor der Schule übergeben müssen. „Ich bin krank, ich will ins Bett.“„Du hast bloß wieder Angst.“Mutter hörte sich weder lieb noch mitfühlend an. „Das ist doch Blödsinn! Herr Krüger ist ein netter Mann, er hat eben nur seinen eigenen Humor.“

In der Schule hatte dann Herr Krü- ger als Erstes unsere Hausaufgab­en sehen wollen.

„Auch von Ihnen, Herr Raschke!“–„Ach was, zu Hause vergessen? Das kennen wir doch schon.“Der Junge war im vierten Schuljahr. „Du weißt Bescheid, nach vorne mit dir! Sonst noch wer? Der kann sich gleich dazustelle­n.“

Noch einer hatte sich gemeldet und war nach vorn gegangen.

„Bücken, alle beide! Schön tief, die Hände auf den Boden! Wie der Blitz habt ihr eure Schularbei­ten geholt. Ihr habt es ja nicht weit, haha.“

Und dann: „Annemarie, kleine Maus, du sitzt am nächsten. Mach mal die Tür auf, ganz weit!“– „So ist es gut.“

Und dann hatte er den beiden Jungen sein Lineal auf den hochgereck­ten Po geklatscht, und sie waren losgestürm­t.

Ich konnte es nicht mehr aufhalten und erbrach mich auf den Fußboden.

Herr Krüger brüllte etwas von Eimer und Aufnehmer und packte mich am Arm.

Mir war schwindeli­g, ich wollte nicht, dass er mich anfasste.

Aber ich war in der Schule, er war mein Lehrer, und ich musste tapfer sein. Trotzdem fing ich an zu weinen.

Herr Krüger zog mich mit sich zu Herrn Janke, der die oberen Klassen unterricht­ete und unser Rektor und der Ortsvorste­her war, und sie redeten. Herr Janke lief in die Klasse von Frau Henkel, und sie redeten.

Dann ging Herr Janke telefonier­en, und Frau Henkel kam zu mir und hockte sich vor mich hin. „Was ist denn los? Bist du krank?“

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