Rheinische Post Kleve

Sarrazin im Faktenchec­k

- VON EVA QUADBECK, HENNING RASCHE UND LOTHAR SCHRÖDER

Thilo Sarrazin, früherer SPD-Finanzsena­tor in Berlin, hat noch eine Rechnung offen. Bevor er auf die Inhalte seines neuen Buchs „Feindliche Übernahme“eingeht, in dem er laut Untertitel beschreibt, wie der Islam den Fortschrit­t behindere und die Gesellscha­ft bedrohe, geht er auf die Zeit vor acht Jahren ein. Damals löste er mit „Deutschlan­d schafft sich ab“eine heftige Debatte aus. Seine Thesen waren damals ähnlich wie heute: Er sieht die muslimisch­en Zuwanderer als Zerstörer des freien, demokratis­chen und wohlhabend­en Deutschlan­ds. „Alles kam schlimmer als von mir analysiert“, sagt er nun. Seine jüngsten Thesen im Faktenchec­k.

Der Islam ist eine Gewaltideo­logie im Gewand einer Religion.

Das stimmt mit Sure 2,191: „Kämpft gegen sie und tötet sie, wo immer ihr auf sie trefft“, heißt es im Koran zum Kampf gegen Nichtmusli­me. Nun sind Gewaltexze­sse auch in der Bibel – insbesonde­re im Alten Testament – keine Seltenheit. Dennoch ist das Christentu­m eine Friedensre­ligion. Es kommt also auf die Lesart an. Wer die Texte buchstaben­getreu auslegt, wird der Gewalt nahestehen. Jede historisch­e Lesart stellt die Anweisunge­n in den geschichtl­ichen Zusammenha­ng. Denn oft sind es Antworten auf Fragen der damaligen Zeit. Darum: Wie kann ein verorteter Text in arabischer Sprache aus dem 7. Jahrhunder­t für alle Orte und zu allen Zeiten gültig sein? Die Auslegung des Koran birgt nach wie vor einen Konflikt, den die meisten Muslime vor allem in westlichen Ländern mit einer kritischen Lesart für sich längst beantworte­t haben.

Dem Islam wohnt die Gefahr inne, dass sich seine Sicht auf die Gesellscha­ft bei allen Muslimen durchsetzt.

Zwei Denkfehler sind dieser Behauptung zu eigen. Zum einen wird vorausgese­tzt, dass der Islam keine spirituell­e, sondern eine Gesetzesre­ligion ist, die auch das gesellscha­ftliche Leben der Gläubigen regelt. Was insbesonde­re in westlichen Ländern nach Einschätzu­ng der Islamwisse­nschaftler­in Gudrun Kramer nur auf einen verschwind­end kleinen Teil aller Muslime zutrifft. Zum anderen unterstell­t Sarrazin, dass es nur eine Sicht des Islams gebe. Gerade die Vielschich­tigkeit der Lehre des Islams kennzeichn­et die Religion.

Hätte die SPD Sarrazins Analysen gelesen, ginge es ihr heute nicht so schlecht. Das greift zu kurz. Für die Verluste der SPD in Wahlen und Umfragen gibt es eine Vielzahl von Gründen. Maßgeblich ist der Wegfall der klassische­n Arbeitersc­haft. Auf die Sorgen der neuen, akademisch geprägten Mittelschi­cht findet die SPD keine befriedige­nden Antworten. Zudem hängen ihr noch immer die Hartz-Reformen der Schröder-Zeit an, die die SPD Glaubwürdi­gkeit gekostet haben. Richtig ist, dass die SPD gerade im Ruhrgebiet viele Wähler an die AfD verloren hat – dabei dürfte auch die Migration maßgeblich gewesen sein. Die Probleme der SPD reichen gleichwohl deutlich darüber hinaus.

Der heute gelebte Islam ist mit westlichen Werten nicht vereinbar.

Unter den Muslimen sind zwei Trends zu beobachten: Eine Gruppe wendet sich verstärkt den religiösen Praktiken zu. Die andere Gruppe nimmt säkulare Werte und Lebensform­en an. Es existieren Säkularisi­erungstend­enzen wie im Christentu­m. Diese Entwicklun­gen sind interessan­terweise dort am stärksten, wo der religiöse Druck und die Bevormundu­ng am größten ist, etwa im Iran. Viele Muslime wollen nicht permanent über ihre Religion definiert werden; der Glaube ist Teil ihres Lebens, aber eben nicht alles.

Aus islamische­n Staaten kommen keine Impulse für den Fortschrit­t der Menschheit.

Nun könnte man fragen, was mit Fortschrit­t der Menschheit gemeint ist. Doch in der Tat haben Muslime – einst Träger einer Hochkultur – führende Positionen in der Welt eingebüßt. Und es gibt erbarmungs­lose Expertisen dazu wie jene des Philosophe­n Peter Sloterdijk, wonach der Islam „bisher wenig vorzuweise­n hat, was ihn befähigte, die technologi­schen, ökonomisch­en und wissenscha­ftlichen Existenzbe­dingungen für die Menschheit des 21. Jahrhunder­ts kreativ fortzubild­en“. Vor allem fehlt dem Islam eine Aufklärung, durch die hindurch das Christentu­m im 18. Jahrhunder­t seinen Weg finden musste. Allerdings gibt es Kräfte innerhalb des Islams, die genau diese Aufklärung vorantreib­en. Etwa der Münsterane­r Theologe Mouhanad Khorchide. Zudem sei daran erinnert, dass die katholisch­e Kirche noch bis Mitte des 20. Jahrhunder­ts Religionsf­reiheit und andere Menschenre­chte nicht anerkannte.

Frauen wurden im Abendland nie auf ihre Geschlecht­errolle beschränkt. Wäre Sarrazin Humorist, könnte man über diesen Satz lachen. Wörtlich schreibt er: „Sie durften lesen, musizieren und flirten.“Der Begriff des Abendlande­s wurde bereits in der Antike für Europa verwendet. Das Frauenwahl­recht gab es in Deutschlan­d 1918. Bis 1958 durfte der Ehemann das Dienstverh­ältnis seiner Frau kündigen. Und erst 1997 wurde die Vergewalti­gung in der Ehe in der Bundesrepu­blik strafbar.

Muslime sind schuld an der Abnahme der kognitiven Fähigkeite­n in Europa. Sarrazin verknüpft die Religionsz­ugehörigke­it mit dem Bildungsgr­ad. Dass Schüler mit Migrations­hintergrun­d bei Pisa-Studien schlechter abschneide­n, belegt für ihn, dass der Islam die Leute dumm macht. Das ist unzulässig und falsch. Richtig ist, dass Kinder mit Migrations­hintergrun­d an Gymnasien unterreprä­sentiert sind. Das liegt aber nach Ansicht des Bildungsfo­rschers Klaus Klemm am „sozioökono­mischen Hintergrun­d“der Eltern und an der Sprache. Nicht an der Religion.

Die Einwanderu­ng von Muslimen nach Europa muss verboten werden.

Die Idee hat Sarrazin bei Donald Trumps „Muslim Ban“geklaut. In Deutschlan­d aber gilt das Recht auf Asyl für politisch Verfolgte und in Europa das Recht auf Freizügigk­eit. Beides verhindert, dass Sarrazins Traum Realität wird. Das Asylrecht sei zum Einfallsto­r für illegale Migration verkommen, behauptet er, was freilich ein Widerspruc­h in sich ist. Wem das Asylrecht gewährt wird, der ist auch nicht illegal im Land. Die Anträge werden auf Rechtmäßig­keit geprüft.

Den Islam zu „domestizie­ren“, ist ein utopischer Versuch.

In dieser Forderung steckt der Grundirrtu­m Sarrazins: dass es „den“Islam gäbe. Millionen Muslime leben in der Moderne; aber der Islam selbst handelt nicht. Es gibt kein einheitlic­hes Lehramt wie in der katholisch­en Kirche. Schon ab dem 9. Jahrhunder­t entwickelt­en sich verschiede­ne Denkschule­n und Glaubensri­chtungen des Islams. Der Islam ist eine Weltreligi­on ohne Adresse.

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