Haftbefehl weitergegeben – Vollzugsbeamter suspendiert
DRESDEN (dpa/sn) Den im Internet veröffentlichten Haftbefehl eines mutmaßlichen Täters der Messerattacke von Chemnitz am vergangenen Sonntag hat offensichtlich ein Dresdner Justizvollzugsbediensteter weitergegeben. Der Mann sei mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert worden, teilte das sächsische Justizministerium am Donnerstag mit. Über weitere Maßnahmen gegen den Mann soll nach Abschluss der strafrechtlichen Ermittlungen entschieden werden. Zuvor hatte die „Bild“-Zeitung berichtet, dass sich der Mann gestellt habe.
Das sächsische Justizministerium bestätigte allerdings die Identität des Bediensteten nicht. Das teilweise geschwärzte Dokument war unter anderem auf einigen Internetseiten von Pro Chemnitz, einem Kreisverband der AfD sowie des Pegida-Gründers Lutz Bachmann verbreitet worden.
Am Mittwoch seien zahlreiche Objekte durchsucht worden, hieß es vom Justizministerium weiter. Die Ermittlungen hätten sich bald auf die Justizvollzugsanstalt Dresden konzentriert. „Die Staatsanwaltschaft Dresden hat seit gestern umfangreiche Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt, so dass ich davon ausgehe, dass der Fahndungsdruck auf den betroffenen Bediensteten derart hoch war, dass er sich jetzt stellte“, sagte der sächsische Justizminister um in Chemnitz zu zeigen, wie stark und gut organisiert es ist. Wie sehr es sich hier als „Vortrupp der Massen“empfindet.
„Ich bin kein Nazi, aber...“. Sätze wie diese werden fast im Minutentakt im Angesicht des Blumenmeeres gesprochen. Der Tatort ist für einige aber zu allererst Gedenk- und Trauerort. Sie legen mit feuchten Augen weitere Blumen nieder, gehen still in die Hocke, um ein paar Minuten das gerahmte Bild des in Chemnitz geborenen Deutsch-Kubaners zu betrachten. Es zeigt Daniel H. als einen kräftigen, fröhlichen Mann mit milchkaffeebrauner Hautfarbe. Wo er Sonntag früh um 3.15 Uhr mit tödlichen Messerstichen niedergestreckt wurde, hat sich jedoch auch ein Kommunikations-, Protest- und Wut-Ort entwickelt. Davon zeugen die schwarz-rot-goldenen Kranzschleifen von jenen, die hier Sonntag und Montag die ersten rechten Demos auf die Straße brachten. An diesem Donnerstag wollen sie erneut aufmarschieren.
Nichts weiter sagen mag die schlanke ältere Dame, Typ Erika Steinbach, die meint, ihre in Klarsichtschutz eingepackte DinA-4-Seite spreche doch für sich: „Wie viel Tote, Verletzte, Vergewaltigte braucht es noch, bis der Staat seine Bürger vor ,Schutzsuchenden’ schützt?!“steht darauf in dicken, fetten Buchstaben. Auf der anderen Seite eine schlichte Trauer-Botschaft in einem eingeschweißten Blatt von den „Hausgeistern“, dem Chemnitzer Hausmeister- und Gebäudedienst, für die Daniel H. als Schreiner Fenster und Türen reparierte.
Seine Kumpels beschreiben ihn als „klasse Typ“, der bei aufkommenden Streitigkeiten stets den Part des Beschwichtigers übernommen habe und von vielen bewundert worden sei: Wie er seine Ausbildung packte, eine Familie gründete und seinen Freundeskreis pflegte. Samstagnacht besuchte er seine Skatrunde, drehte auch noch ein paar Runden über das Stadtfest. Was dann in Sebastian Gemkow (CDU) am Donnerstag.
Der Rechtsanwalt des suspendierten Justizvollzugsbeamten veröffentlichte am Donnerstag eine Stellungnahme seines Mandanten im sozialen Netzwerk Facebook. Dort gab der Mann zu, den Haftbefehl vollständig abfotografiert zu haben. Ihm sei klar gewesen, dass er seinen Job mit hoher Wahrscheinlichkeit verlieren werde, nicht aber, dass er sich möglicherweise strafbar der Brückenstraße passierte, konnte er der Polizei noch sagen, bevor er starb. Die Polizei nahm daraufhin einen 22-jährigen Syrer und einen 23-jährigen Iraker fest. Letzterer mit etlichen Vorstrafen, auch wegen Körperverletzung.
In Chemnitz heizen Informationen wie diese die Stimmung weiter an. „Deutsche Straftäter in den Knast, ausländische Straftäter sofort abschieben, dann haben wir wieder Ruhe“, sagt Harald Wagner (62) neben dem Blumenmeer. „Da vorne“, erklärt er und deutet auf die Straße der Nationen, sei er 1989 vom Regime eingekesselt worden. Das sei beängstigend gewesen. Jetzt habe er wieder dieses Angstgefühl. Wegen der vielen Ausländer. Beim Einkaufen in der Roter-Turm-Passage um die Ecke würden junge Mädchen von ausländischen Jugendlichen unflätig und ordinär angemacht. Die lasse der Staat gewähren, während ein guter Freund, ein „fähiger Lackierer, der immer seine Steuern zahlte“, in den Irak abgeschoben worden sei. „Das läuft doch alles total schief hier“, stellt er kopfschüttelnd fest.
Die Demo der Rechten am Sonntag habe er von seinem Fenster aus gesehen. Wie es plötzlich Schreie gegeben habe und einzelne Gruppen gerannt seien, berichtet Wagner. Die AfD behauptet nun, es habe gar keine Jagd auf Migranten gegeben. Im Café International, einem Treff für Flüchtlinge, wissen sie es besser. Doch die Attackierten trauten sich mache, hieß es weiter. Sein Ziel sei es gewesen, „dass die Spekulationen über einen möglichen Tatablauf ein Ende haben“.
Zuvor war bereits der Bremer Bürgerschaftsabgeordnete Jan Timke in den Fokus der Ermittler geraten. Er soll das Dokument rechtswidrig auf Facebook weiterverbreitet haben. „Wir haben einen Hinweis bekommen“, sagte Oberstaatsanwalt Frank Passade in Bremen. Timke ist Bundespolizist und Mitglied der rechten nicht, zur Polizei zu gehen. Es liegt eine tiefe Verunsicherung über der Stadt.
Besonders dort, wo sich die 247.000-Einwohner-Kommune mit ihren 20.000 Ausländern international gibt. Die Technische Universität, die sich als die internationalste in Sachsen empfindet, fürchtet massive Standortfolgen. Die Bewerbung von Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas 2025 könne man nun sicher knicken, heißt es in der Kommunalpolitik. Die Ballett-Chefin hat die ausländischen Ensemble-Mitglieder sogar angewiesen, möglichst nicht mehr alleine durch die Stadt zu gehen.
Naji el-Ali, ein Palästinenser, der als Student in die damalige DDR kam, hat diese Bedenken nicht. Er kommt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen zum Tatort, legt einen Strauß weißer Rosen nieder. Auch er habe den Daniel „gut gekannt“. Und wie Daniel fühle auch er sich zu Hause in Chemnitz. „Haut ab“, brüllt plötzlich ein leicht schwankender Mann, die Bierdose in der Hand. Er schimpft auf die „zionistischen“Medien. Der Alkohol beschleunigt den Antisemitismus. Mehrere junge Leute reden sofort auf ihn ein. „Denk an Daniel, das hätte der nicht gewollt“, sagen sie wiederholt.
Die sächsische Polizei hat Verstärkung aus fünf Bundesländern und vom Bund angefordert, um neue Ausschreitungen am Abend vor der Arena zu verhindern. Hunderte sind einem Aufruf der rechten „Pro Chemnitz“-Organisation gefolgt. Als Kretschmer das „Sachsengespräch“mit einer Gedenkminute für Daniel H. beginnt, dringen Parolen wie „Deutschland den Deutschen“von draußen in den Saal. Drinnen gibt es massive Kritik. Die Politik könne doch nicht „zwei Kulturen aufeinander prallen lassen und dann im Regen stehen lassen“, klagt eine Frau unter lebhaftem Applaus. Chemnitz steht vor weiteren schwierigen Tagen. Wählervereinigung „Bürger in Wut“. Sein Dienstverhältnis bei der Bundespolizei ruht, solange er in der Bürgerschaft sitzt.
Die Ermittler durchsuchten nach Angaben der Staatsanwaltschaft bereits am Mittwoch die Wohnung des Mannes in Bremerhaven. Darüber hatte zunächst Radio Bremen berichtet. Timke habe den Haftbefehl inzwischen von seiner Facebook-Seite entfernt, erklärte Passade.