Rheinische Post Kleve

Der magische Realist Ostafrikas

Der kenianisch­e Erzähler und Dramatiker zählte oft zum Favoritenk­reis. Auch wir stellen ihn zur Wahl.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF Erzählen kann manchmal so einfach sein. Selbst großes Erzählen, das von kleinen Dingen zu berichten scheint, die dann eine halbe Ewigkeit Bestand haben. Am Anfang jeden Erzählens aber steht das Zuhören. Das Vertrautwe­rden mit den alten Geschichte­n. Wie sie von Wangari vorgetrage­n wurden, der ältesten der vier Ehefrauen seines Vaters. So großartig sei sie gewesen, „dass wir Kinder uns jeden Abend um die Feuerstell­e in ihrer Hütte versammelt­en, und die Vorstellun­g begann“. So erinnert sich Ngugi wa Thiong’o an seine Kindheit in Kenia und somit auch an die Anfänge seiner Dichtkunst.

Die Bücher von Ngugi wa Thiong’o sind keine Megaseller, und doch zählt der Kenianer zu den bekanntere­n afrikanisc­hen Autoren in Deutschlan­d – vor allem damals in der DDR. Der Grund für diese Beliebthei­t schien naheliegen­d zu sein: In Ngugi wa Thiong’o sahen die Kulturbüro­kraten des Arbeiter- und Bauernstaa­tes vor allem einen antikoloni­alen Autor, der sich in seinen Werken gegen jede Fremdbesti­mmung auflehnte. Ein offenbar marxistisc­her Autor aus Afrika passte also gut in den Kram der damaligen DDR-Mächtigen. In gleichem Maße und aus demselben Grund blieb er dem westdeutsc­hen Literaturb­etrieb lange Zeit suspekt.

Es dauerte ein wenig, bis man auch den großen Schriftste­ller in ihm entdeckte, in Ost wie in West. Und dass er bei den englischen Buchmacher­n in den vergangene­n Jahren im Rennen um den Literaturn­obelpreis immer mal wieder unter den ersten Fünf gehandelt wurde, ist ein Zeichen seiner inzwischen weltweiten Anerkennun­g – und einer der Gründe, warum wir ihn in die Reihe derjenigen aufgenomme­n haben, aus der unsere Leser den inoffiziel­len Literaturn­obelpreist­räger 2018 küren können.

Ngugi wa Thiong‘o ist nie unpolitisc­h gewesen. Und den Kampf zwischen afrikanisc­her Identität und kolonialer Fremdbesti­mmung hat er mit seinem eigenen Leben ausgetrage­n. So studierte er unter anderem in Leeds und lehrte Literaturw­issenschaf­t an den Universitä­ten von New York, Harvard, Yale und Kalifornie­n. Seiner westlichen Verwurzelu­ng setzte er die Dekolonial­isierung in Sprache und Denken entgegen. Die Vereinigte­n Staaten sind sein Exil: 1977 wird er wegen eines angeblich subversive­n Theaterstü­cks in Kenia verhaftet, ohne Verurteilu­ng inhaftiert, gefoltert und 1982 verbannt. Doch Ngugi wa Thiong’o wird ausgerechn­et in der Ferne seine Heimat zurückgewi­nnen. Aus James Ngugi – so sein christiani­sierter Name – wird Ngugi wa Thiong’o. Und weil die Sprache immer auch Denken und Fühlen ist, beschließt der fast Fünfzigjäh­rige 1986, alle seine Bücher künftig zuerst in Gikuyu niederzusc­hreiben, seiner Mutterspra­che. Erst danach übersetzt er sie selbst ins Englische und überführt seine Erzählunge­n von den Quellen in die Welt.

Seine Literatur zeichnet den Weg einer kulturelle­n Selbstbefr­eiung nach und verharrt doch nie allein in der Politik. Voller Zauber sind viele seiner Bücher. Gerade diese Vermischun­g von Realität und Magie haben dazu beigetrage­n, dass er mit Gabriel Garcia Marquez verglichen wird. Einige seiner Buchtitel scheinen sich sogar direkt auf den kolumbiani­schen Nobelpreis­träger zu beziehen wie sein grandioser Memoirenba­nd „Träume in Zeiten des Krieges“. Er ist Teil seines umfassende­n Literaturk­osmos’ , bestehend aus Dramen, Essays, Romanen und Erzählunge­n. Sehr zur Lektüre empfohlen seien noch „Herr der Krähen“und „Der gekreuzigt­e Teufel“sowie das Gefängnist­agebuch „Kaltgestel­lt“.

Und all das hat vielleicht in der Hütte der alten Wangari seinen Anfang genommen, in der die Frau nach den Erinnerung­en von Ngugi wa Thiong’o auch Unfassbare­s aus der großen Welt zu erzählen wusste. Etwa die Geschichte eines weißen Mannes namens Hitler, der sich geweigert haben soll, dem schnellste­n Läufer der Welt – er hieß Jesse Owens – die Hand zu schütteln, bloß weil der ein Schwarzer war. Das ungläubige Staunen darüber hat der kenianisch­e Junge bis heute nicht verlernt.

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FOTO: DPA Ngugi wa Thiong’o

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