Immer die Nase in den Wind halten
„Immer schön rechts halten, nicht zu nah an die Hafenmauer ranfahren und den Fluss nur nach Anweisung queren“– beim nächtlichen Kajaken im Herzen Chicagos lernt man die „Windy City“von einer neuen Seite kennen.
Hier ist alles ein bisschen größer als anderswo. Nicht nur zu Land – auch auf dem Wasser. Chicago zu besuchen und sich auf dem Lake Michigan den Wind um die Nase wehen zu lassen, gehört irgendwie zusammen. Noch näher am Wasser und am pulsierenden Leben der Großstadt ist man auf dem Chicago River, der mitten durch die Millionenmetropole fließt. Man braucht kein Adrenalinjunkie zu sein, um hautnahen Kontakt mit ihm aufzunehmen. Lust auf eine frische Brise und Spaß an einem sportlichen Abenteuer sind aber schon von Vorteil. Ein fantastischer Perspektivwechsel ist in jedem Fall garantiert. Es muss auch nicht am helllichten Tag sein.
Samstagabend, 19 Uhr. Treffpunkt zum „Nachtkajaking“am Riverwalk – im Herzen von Chicago, dort wo der Chicago River in den Michigan See mündet. Es ist windig, sehr windig. Die Spätsommersonne steht bereits tief. „Welcome folks“, begrüßt Coach Trevor Wasserzieher seine zehnköpfige, altersgemischte Gruppe. Amerikaner von der Westküste sind darunter, ein paar Einheimische – auch zwei deutsche Gäste. „Freut euch auf ein tolles Spektakel, auf herrliche Ausblicke und natürlich aufs nächtliche Feuerwerk.“Zunächst aber gibt es eine technische Einweisung und ein paar Lektionen über Sicherheit und das korrekte Paddeln. Nicht zuletzt geht’s darum, dass auch auf dem Wasser Verkehrsregeln herrschen. „Auf dem Chicago River ist manchmal Rush Hour wie auf der Michigan Avenue“, sagt Trevor. „Also immer schön rechts halten, nicht zu nah an die Hafenmauer ranfahren und den Fluss nur nach meiner Anweisung queren.“Auch das korrekte Einsteigen in das Kajak will gelernt sein. „Immer auf die richtige Balance und das Lächeln auf den Lippen achten“, ermahnt Trevor. „Und seid darauf vorbereitet, dass ihr nass werden könntet.“Also nichts wie raus aus den Jeans, rein in die kurzen Sporthosen und schon kann’s losgehen.
Die ersten Paddelschläge sind schnell gemacht. Glück gehabt: Der Wind kommt von Osten, bläst also in den Rücken. „Könnt ihr euch vorstellen, warum Chicago auch Windy City genannt wird?“, will Trevor wissen. Als ob das nicht selbsterklärend wäre. „Eben nicht“, sagt der 25-Jährige verschmitzt. „Diese Stadt ist nicht nur windig in Bezug aufs Wetter. Auch Politiker, die ihre Fahne gern in den Wind hängten, sorgten für diesen Spitznamen. Schließlich war Chicago im beginnenden 20. Jahrhundert eine der korruptesten amerikanischen Städte überhaupt.“
Der Blick geht nach vorn in Fahrtrichtung, aber auch nach Trevor Wasserzieher Urban Kayaks
rechts und links und vor allem steil nach oben. Zum Beispiel auf den 365 Meter hohen, von der Architektin Jeanne Gang entworfenen Vista-Tower. „Echte Frauen-Power“, kommentiert jemand aus der Gruppe anerkennend. Natürlich geht Trevor während diverser Stopps auf die Geschichte der
Stadt, auf das große Feuer von 1871 und die Weltausstellung von 1893 ein. Interessant zu erfahren, dass der Chicago-River von insgesamt 38 Brücken überspannt wird, damit nah an Amsterdam heranreicht – und dass er zu Ehren der vielen irischen Einwanderer jedes Jahr am St. Patricks Day mit einem pflanzlichen Farbstoff grün eingefärbt wird.
Der Flussverkehr nimmt zu. Man muss sich also die Wasserstraße mit vielen gelben Wassertaxis und Ausflugsbooten teilen. Auch die Wellen werden nicht kleiner. Die Höhe des Trump Tower ist erreicht. Mittlerweile ist Dämmerung fortgeschritten. Die ersten Partyschiffe tauchen auf. Zeit für eine Gruselgeschichte aus dem alten Chicago.
Mit durchdringender Stimme berichtet Trevor von der jungen Mary, die Streit mit ihrem Begleiter hatte und nach einem Abend in der Tanzbar „Oh Henry Ballroom“allein nach Hause gehen wollte. Auf der Archer Avenue, einer Straße entlang eines alten Indianerpfades, sei sie von einem Auto erfasst und tödlich verunglückt. „Ihre Eltern haben sie in ihrem weißen Kleid und den Tanzschuhen begraben, auf dem Resurrection Friedhof an der gleichen Straße“, erzählt Trevor weiter. „Seither wird die Gestalt der Mary immer wieder am Straßenrand gesehen. Autofahrer berichten von einer Anhalterin, die nach Hause gebracht werden will – und nach wenigen hundert Metern aus dem fahrenden Auto springt, um in der Dunkelheit zu verschwinden.“
Mittlerweile ist es stockdunkel. Es geht zurück. Jetzt muss gegen den strammen Gegenwind angekämpft werden. Vom Ufer aus kommen ermunternde Anfeuerungsrufe. Trevor hatte recht. Man ist nicht nur durchs Schwitzen nass geworden. Nach zweieinhalb Stunden ist der Ausgangspunkt erreicht. Durchschnaufen, sich über Glückshormone und das nächtliche Feuerwerk freuen, das die Nacht erhellt. Morgen geht’s auf eine Fahrradtour raus in die Natur und zur Halbinsel „Northerly Island“. Für das nächste sportliche Abenteuer in Chicago dürfte also gesorgt sein.
„Auf dem Chicago River herrscht Rush Hour wie auf der Michigan Avenue“
Die Redaktion wurde von Choose Chicago zu der Reise eingeladen.