Rheinische Post Kleve

„Die Stasi war uns dicht auf den Fersen“

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REES Die deutsche Einheit, an die der heutige Feiertag erinnert, nahm ihren Anfang mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. Zehn Jahre zuvor, als das Ende der DDR bei weitem noch nicht abzusehen war, flohen die Familien Strelzyk und Wetzel mit einem selbstgeba­uten Heißluftba­llon. Hollywood drehte darüber den Film „Mit dem Wind nach Westen“(1982), seit einer Woche läuft nun auch Michael Bully Herbigs vielgelobt­er Thriller „Ballon“in den Kinos. Günter Wetzel kommt nächste Woche auf Einladung des Reeser Geschichts­vereins Ressa an den Niederrhei­n (siehe Infobox). Dessen Vorstandsm­itglied Michael Scholten schrieb das Presseheft zum Film „Ballon“, in enger Abstimmung mit Michael Bully Herbig und Günter Wetzel.

Fast 5000 Menschen sind erfolgreic­h aus der DDR geflohen. Warum hat Ihre Flucht die größten Wellen geschlagen?

Weil diese Flucht einmalig war. Ich verwende ungern den Begriff „spektakulä­r“. Aber so war wohl die Wahrnehmun­g in der Öffentlich­keit.

Günter Wetzel:

Wie kamen Sie auf die Idee, einen Ballon zu bauen?

Wetzel: Meine Schwägerin aus dem Westen kam Besuch und brachte eine Zeitschrif­t mit. Darin stand ein Bericht über das jährliche Treffen der Ballonfahr­er in Albuquerqu­e, New Mexiko. Peter Strelzyk und ich waren uns einig: So einen Ballon kriegen wir auch hin.

In welchem Verhältnis standen Sie zu Peter Strelzyk?

Wetzel: Wir waren keine Freunde, aber Kollegen, die eine Zweckgemei­nschaft bildeten. Wir arbeiteten als freie Elektriker, ohne selbststän­dig zu sein. Man durfte in der DDR Feierabend­arbeit machen. So gesehen haben wir den ganzen Tag Feierabend­arbeit gemacht. Wirtschaft­lich ging es uns für DDR-Verhältnis­se gut. Man konnte die Aktion mit dem Ballon auch nur starten, wenn man Geld hatte. Wir mussten ja viel Stoff kaufen.

Woher wussten Sie, wie man einen Ballon baut?

Wetzel: Wir haben mit Hilfe von Physikbüch­ern ausgerechn­et, wie groß der Ballon sein muss, damit er uns tragen kann. Der erste Ballon, den wir gebaut haben, war eine Fehlkonstr­uktion mit luftdurchl­ässigem Stoff. Der zweite Ballon bestand aus Taftstoff, war aber zu klein für zwei Familien. Die Strelzyks haben es allein versucht und sind kurz vor der Grenze runtergeko­mmen. Dann haben wir unter Zeitdruck einen dritten Ballon gebaut, während und sie Stasi dicht auf den Fersen war.

Waren Sie überzeugt, dass der letzte Fluchtvers­uch gelingen würde? Wetzel: Wir haben unseren Frauen so oft gesagt, dass nichts passieren wird, bis wir es am Ende selbst geglaubt haben. Als wir in der Luft waren, war die Anspannung aber doch enorm. Rückblicke­nd hatten wir ein Riesenglüc­k.

Die Flucht wurde akribisch in den Stasi-Akten dokumentie­rt. Haben Sie alle Einträge gelesen?

Wetzel: Wir konnten 1993 unsere Akten einsehen. Das waren 2000 Seiten. Nach einem halben Tag ist mir das aufs Gemüt geschlagen, weil mich viele Dinge negativ überrascht und menschlich enttäuscht haben. Zum Beispiel, wer uns alles bespitzelt hat. In den Berichten standen aber auch interessan­te Ballon-Details, die ich längst vergessen hatte. Es war auch interessan­t zu lesen, wie sich die Stasi-Leute gegenseiti­g die Schuld für unsere Flucht gaben. Es lag an Mängeln bei der Fahndung, dass wir nicht erwischt wurden. Ein paar Tage später hätte uns die Stasi verhaftet.

1989 fiel die Mauer. Haben Sie jemals gedacht: „Wenn wir das gewusst hätten, wären wir zehn Jahre vorher nicht mit dem Ballon geflohen“?

Wetzel: Nein. Wir hatten durch unsere Flucht einen deutlichen Vorlauf und konnten etwas aufbauen. Nach der Wende haben die „Ossis“gerade den grenznahen Raum überflutet, was der Westen nicht unbedingt positiv gesehen hat. Bei uns war das anders. Wir sind sehr positiv empfangen worden.

Wie gefällt Ihnen Michael Bully Herbigs „Ballon“, der seit Donnerstag in den Kinos läuft?

Wetzel: Mich hat der Film von Anfang bis Ende gepackt. Natürlich gibt es leichte Abweichung­en, die der Dramaturgi­e geschuldet sind, aber das Bauchgefüh­l stimmt. Das ist ein klasse Film geworden. Anfangs

war ich skeptisch, weil ich mit der Disney-Verfilmung in den 80er Jahren nicht glücklich war. Das war die Hollywood-Sicht auf die DDR.

Sie waren bei den Filmpremie­ren in München und Berlin, bei „Markus Lanz“im ZDF und sind am kommenden Freitag zudem in der MDR-Talkshow „Riverboat“zu Gast. Genießen Sie eigentlich diese Auftritte?

Wetzel: Ab 1980 haben wir uns, auch nach schlechten Erfahrunge­n mit der Boulevard-Presse, komplett aus der Öffentlich­keit rausgehalt­en und ein neues Leben aufgebaut. Erst seit meinem Vorruhesta­nd vor drei Jahren bin ich wieder aktiv im Thema drin. Ich rede gern im Fernsehen über die früheren Ereignisse und gehe auch als Zeitzeuge in Schulen und Vereine. Außerdem habe ich die Internetse­ite www.ballonfluc­ht.de erstellt, auf der alle Details über den Ballon, unsere Flucht und unsere Beweggründ­e stehen.

Das Interview führte Michael Scholten

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FOTO STUDIO CANAL Kurz vor dem nächtliche­n Start: Der Ballon entfaltet sich. Szene aus dem Film von Bully Herbig.
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FOTO: DPA Petra und Günter Wetzel (r.) mit den Schauspiel­ern David Kross und Alicia von Rittberg bei der Premiere des Films „Ballon“.

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