Europa, sei jung im Kopf!
Gedanken an große Alte beim Besuch der Kathedrale von Reims.
Vor Kurzem stand ich vor zwei Gedenksteinen auf dem Pflaster vor der Kathedrale in Reims und war bewegt: In französischer und in deutscher Sprache wird dort an das historische Treffen von Frankreichs Präsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer am 8. Juli 1962 erinnert. In Reims erklang das feierliche, sakral bekräftigte „Amen, so sei es!“zur deutsch-französischen Versöhnung nach langer Völkerfeindschaft bis aufs Blut. Mir schoss der Befund des späteren Adenauer-Nachfolgers Helmut Schmidt durch den Kopf, wonach ein Politiker, der Visionen habe, zum Arzt gehen solle. Für mich war das stets ein Beleg dafür, dass selbst hochintelligente Menschen von Zeit zu Zeit dummes Zeug von sich geben. De Gaulle und Adenauer waren politische Visionäre. Ihr deutsch-französisches Versöhnungswerk kann man als Jahrhundertwerk begreifen. Wer sich gelegentlich über absurdes Theater in Brüssel oder Straßburg ärgert, sollte das Große der Idee eines vereinten Europas für wichtiger nehmen, jenes Große, zu dessen Fundament-Gestein das historische Datum im gotischen Prachtbau zu Reims gehört.
Es mag sein, dass der Schriftsteller Heinrich Mann recht hatte, als er das „übernationale Gemeinschaftsgefühl der Europäer eine reine Erfindung von Dichtern“nannte. Aber dass wir gut daran tun, die von Winston Churchill – welch ein Visionär auch er – erstmals 1946 entwickelte Idee der Vereinigten Staaten von Europa für immergrün zu halten, darf man behaupten, ohne unter die medizinischen Fälle sortiert zu werden. Nach Kriegen, Landraub, Völkermord eine Aussöhnung ins Werk zu setzen, war die Leistung europäischer Gestalter. Wir wären freche Versager, wenn wir uns nicht auf deren Schultern stellten, sondern ihnen ins Kreuz treten würden. Vorwärts, alter Kontinent, sei jung im Kopf!