Parteien ohne Volk
Countdown bis zum Niedergang der Volksparteien? Wenn die Demoskopen recht behalten, bleibt nach der Bayernwahl kein Stein auf dem anderen. In der CSU könnte es zum Machtkampf kommen, der auch Berlin betrifft.
Altkanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Winfried Kretschmann haben eine wenig bekannte Schnittmenge. Es ist die Wissenschaft. Genauer: Die Politikwissenschaft, die Dolf Sternberger lehrte, dessen Schüler der Christdemokrat Kohl in den 1950ern war, und den der Grüne Kretschmann bis heute verehrt. Sternberger, der in Heidelberg lehrte und 1989 starb, hat einen Begriff geprägt, der heute auf einst nicht vorstellbare Weise die christlich liberale, demokratische Union und die Ökopartei zunehmend verbindet: Volkspartei.
Sternberger definierte eine Volkspartei als eine für Bürger aller gesellschaftlicher Schichten und unterschiedlicher
Weltanschauungen im Prinzip offene Partei. So wie die CSU in Bayern über Jahrzehnte eine Bindekraft für Wähler von der linken Mitte der Gesellschaft bis weit rechts entwickelte. Der SPD gelang dies von der rechten Mitte bis weit links von ihr und die CDU hatte von allem etwas. Die Fähigkeit bröckelt seit Jahren, was bei der Landtagswahl am Sonntag in Bayern zu einem desaströsen Ergebnis für Union und SPD führen könnte.
Laut Umfragen jedenfalls droht den Christsozialen ein Absturz von der Stärke einer mit 47,7 Prozent alleinregierenden Partei auf 30 bis 35 Prozent. Die Sozialdemokraten müssen wieder einmal ein historisch schlechtes Ergebnis befürchten, weil von den 2013 errungenen gut 20 Prozent womöglich nur noch zwölf übrigbleiben. Ein umgekehrter Verlauf wird den Grünen vorhergesagt: Sie könnten von 8,6 auf 19 Prozent zulegen. Damit wären sie, die als bürgerliche Partei auch Wähler von der Union bekommen, schon fast eine Volkspartei. Auch im Bund liegen sie derzeit mit 17 Prozent an zweiter Stelle hinter der dramatisch einbrechenden Union, die nur noch bei 26 Prozent gesehen wird, und vor der weiter strauchelnden SPD mit 15 Prozent. Die drei – vielleicht muss man bald sagen „ehemaligen“– miteinander koalierenden Volksparteien CDU, CSU und SPD sind zu dritt derzeit weit von einer Mehrheit entfernt.
Aber erleben wir nicht eine Spirale von immer wieder neuen Umfragen und ständig neue Reaktionen der Politiker, was den Anschein erweckt, dass sie Gefangene dieser Stimmungsbarometer sind? Früher gab es eine Selbstverpflichtung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, wenigstens in den Tagen vor der Wahl keine Umfragen mehr zu veröffentlichen. Medien verzichteten in dieser Zeit auf Interviews mit den Spitzenpolitikern. Das war einmal. Und das sei auch richtig so, sagt Manfred Güllner, Geschäftsführer des von ihm gegründeten Meinungsforschungsinstituts Forsa.
Die Bürger ließen sich nicht von Umfragen beeinflussen und wählten souverän. Es gebe nur eine kleine Gruppe, die womöglich genau auf die Umfragen schaue: potenzielle Wähler der FDP, die ihre Stimme nicht verschenken wollten, wenn die Liberalen unter der Fünfprozent-Hürde taxiert werden. Derzeit liegt die FDP in Bayern bei 5,5 Prozent (2013: 3,3 Prozent).
Für die Politiker sei es aber enorm wichtig zu wissen, wie es um die Gunst der Wähler bestellt sei. Sie könnten sich dann besser wappnen. Konrad Adenauer habe sich nicht von der Wiederaufrüstung Deutschlands nach dem Krieg abhalten lassen, obwohl eine breite Mehrheit dagegen gewesen sei – und er sei eindrucksvoll wiedergewählt worden, sagt Güllner. Ein Rätsel sei ihm aber die CSU im Umgang mit der AfD. Sie habe nicht verstanden, dass sie diese Partei nur „aushungern“könne und das geschehe nicht, indem man ihr immer wieder neue Nahrung für die Auseinandersetzung gebe. Parteichef Horst Seehofer und Ministerpräsident Markus Söder hätten das alles ignoriert und die Wählerschaft so weiter gespalten.
In allen drei einst so stolzen Volksparteien
„Die Volkspartei – eine für Bürger aller Schichten im Prinzip offene Partei“
Dolf Sternberger Politikwissenschaftler