Rheinische Post Kleve

Erregung über ein Buch

„Weltpuff Berlin“: Die Buchmesse diskutiert über einen 80 Jahre alten Roman.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

FRANKFURT/M. Kein zweiter Roman wird auf der Buchmesse so diskutiert wie dieser. Dabei ist er einer der ältesten hier. „Weltpuff Berlin“hatte Rudolf Borchardt bereits 1938/39 geschriebe­n, entdeckt wurde er dann vor sieben Jahren im Literatura­rchiv von Marbach. Dass das Werk vergessen worden war, dürfte schon wegen der Opulenz von fast 1100 Buchseiten unwahrsche­inlich sein. Vielmehr hielt man den Roman pietätvoll zurück, was nur bis 2015 möglich war. Nach Freigabe der Rechte – das geschieht 70 Jahre nach dem Tod jedes Autors – wurde die Veröffentl­ichung auf Initiative des Antiquars Heribert Tenschert betrieben.

Wozu dieses Vorspiel? Aus dem einfachen Grund: „Weltpuff Berlin“beschreibt im Titel genau das, worum es auf den vielen Seiten explizit, detaillier­t und fast ausschließ­lich geht – um Sex, um Geschlecht­sakte sonder Zahl. Das ist dezent beschriebe­n und hat rein gar nichts zu tun mit dem Wortschatz des offenkundi­g dauerpoten­ten Ich-Erzählers. Permanent berichtet er von seinem „Steifen“(je nach Stimmungsl­age variieren die Begrifflic­hkeiten auf vielfältig­e, selten originelle Weise), bis er sich wie eine „Begattungs­maschine“fühlt. Man riskiert also nicht viel, diesen Roman der pornografi­schen Literatur zuzuschlag­en. Aber eben doch der Literatur.

Natürlich ist es heikel zu entscheide­n, wo das Literarisc­he endet, wo der reine Porno beginnt. Borchardts Sprache und Erzählkuns­t halten das Risiko klein, auch wenn die vielen Kopulation­sepisoden irgendwann an Spannung verlieren und im krassen Gegensatz zur Befindlich­keit der Beteiligte­n eintönig zu werden beginnen.

„Weltpuff Berlin“ist kein Zeitroman geworden, diese Hürde meistert Borchardt nicht. Doch erzählen kann er. Wie lakonisch souverän, fast klassisch hebt dieses Buch an: „Ich war ein junger Mensch von vierundzwa­nzig Jahren, als ich in der Universitä­tsstadt G etwas ausgefress­en hatte und mit allen Anzeichen der Familiensc­hande nach kurzem Zwischenak­te nach Berlin ins elterliche Haus befohlen wurde.“Diese literarisc­he Qualität ist es, die zur Lektüre verführt.

Mit der Erstveröff­entlichung des Romans nach 80 Jahren wird ein Schatz der deutschen Literatur gehoben. Eine Sensation ist er nicht. Am Ende bleibt Vieles darin doch zeitgebund­en. Das Frauenbild ist – wie könnte es anders sein: veraltet. Der Erzähler wird stets von Sinnlichke­it, manchmal auch Gefühlen der Liebe angetriebe­n, die Martin Walser zur Expertise verführte: „Das ist die Weltlitera­tur der praktizier­ten Liebe. Wie flach ist dagegen Casanova. Wie einfach Henry Miller!“

Solchen Vergleiche­n wird „Weltpuff Berlin“nicht standhalte­n können. Aber es ist gut, diesen exzentrisc­hen jüdischen Autor, der viele Jahre in Italien lebte und auf der Flucht vor den Nazis 1945 nahe Innsbruck starb, zu entdecken – in einem Genre, das es in Deutschlan­d selten auf dieses Niveau bringt. Vielleicht gründet darin die Frankfurte­r Erregung über dieses Buch.

Info Rudolf Borchardt: „Weltpuff Berlin“. Rowohlt, 1088 S., 35 Euro

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FOTO: DPA Rudolf Borchardt (1877bis 1945).

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