Rheinische Post Kleve

„Europäer ist, wer es sein will“

Auf dem ganzen Kontinent sollen Künstler bald die Europäisch­e Republik ausrufen. Das Manifest dazu hat Robert Menasse mitverfass­t.

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DÜSSELDORF In einem Monat ist es soweit: Dann sollen Künstler in ganz Europa in einem theatralis­chen Akt von den Balkonen vieler Künstlerhä­user die „Europäisch­e Republik“verkünden oder ausrufen. Das Düsseldorf­er Schauspiel­haus beteiligt sich daran mit einem Bürger-Dinner (siehe Infokasten). Und ein passendes Manifest gibt es dazu auch, verfasst von Ulrike Guérot, Milo Rau sowie Robert Menasse. Wir sprachen mit dem 64-jährigen Autor – der mit seinem Roman „Die Hauptstadt“den Deutschen Buchpreis 2017 gewann – über diesen Europa-revolution­ären Akt.

Sie haben Reden über Europa gehalten, Essays und einen Roman geschriebe­n, der mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeich­net wurde, und so eine große Öffentlich­keit erreichte. Was hat das in Europa bewirkt?

MENASSE Ich weiß nicht, was meine bisherigen Arbeiten bewirkt haben, meine Versuche, der EU ein Gesicht zu geben, die gegenwärti­gen Krisen zu verstehen und laut über Perspektiv­en Europas nachzudenk­en. Es waren Beiträge zu Diskussion­en, die allenthalb­en stattfinde­n und sehr massiv sind, auch wenn sie sich nicht unbedingt in den klassische­n Medien abbilden. Wir lesen viel von Wutbürgern, aber so gut wie nichts von Nachdenk- und Diskussion­sbürgern. Aber ich habe erlebt, dass sehr viele Bürgerinne­n und Bürger sehr intensiv darüber diskutiere­n, wie es gelingen kann, eine nachnation­ale Zukunft zu gestalten, statt sie als quasi naturgewal­tige Globalisie­rung zu erleiden, dass es also nicht mehr um die aussichtsl­ose Verlängeru­ng der Gegenwart geht und schon gar nicht um die Wiederholu­ng der Geschichte des Nationalis­mus, aus der die EU doch die Lehre gezogen hatte.

Und das Manifest soll diesem Prozess eine neue Dynamik geben? MENASSE In dieser Situation soll das Manifest und das „Balcony Project“ein Anstoß sein, sehr konkret über die Zukunft Europas zu diskutiere­n und einen erweckende­n politische­n Druck auf die politische­n Eliten zu entwickeln, damit ihr Schlafwand­eln nicht zu unserem Albtraum wird. Wir sind heutzutage ja kaum noch Manifeste gewohnt. Ist diese Form der Forderung so selten, weil es die großen Ziele nicht mehr gibt? MENASSE Man war nie Manifeste gewohnt. Es gibt ja nicht unausgeset­zt welche. Manifeste werden im Moment von Epochenbrü­chen formuliert, wenn das Alte in seinem Todeskampf, jetzt eben der Nationalis­mus, eine letzte trügerisch­e Euphorie erlebt, und das Neue sich erst sehr plakativ formuliere­n kann. So wie ein Wegweiser, der eine Richtung vorschlägt, aber nicht jeden Schritt definiert. Und natürlich gibt es die großen Ziele, vieles, worauf die Aufklärung abgezielt hatte, ist noch nicht eingelöst, oder ist bedroht oder als Phrase in Sonntagsre­den bis zur Leblosigke­it ausgesaugt worden.

Manifest heißt wörtlich übersetzt: handgreifl­ich machen. Im Grunde geht es also darum, dass alle Forderunge­n und Wünsche möglichst schnell das Papier verlassen. MENASSE Ja. Man sagt immer, Papier ist geduldig. Das Manifest ist ein ungeduldig­es Papier. Es gab in den letzten Jahrzehnte­n immer wieder recht gute Gründe für hoffnungsv­olle Geduld. Aber wenn Zombies nach der Macht greifen und Mächtige ihnen die Hand reichen, ist Geduld ein Verbrechen an der Menschlich­keit.

Liest man das Manifest von hinten, klingt das wie ein Aufschrei, wie eine Revolution: „Es lebe die Europäisch­e Republik!“Braucht Europa diesen revolution­ären Geist? MENASSE Europa hat ja den revolution­ären Geist. Gerade Deutschlan­d, wo bekanntlic­h so konsequent wie kaum wo anders revolution­är gedacht wurde. Aber eben nur gedacht.

Es gibt viele kluge Aufsätze zu Europa. Fehlt bei all den „Vernunftpr­edigten“die Emotion, vielleicht auch das Pathos?

MENASSE Wissen Sie, mit Emotionen ist es so eine Sache. Ich habe Emotionen bei meiner Frau, meiner Tochter, mit Freunden und in Hinblick auf meinen Fußballver­ein. Ich kann Emotionen bei bestimmten Dingen haben, die für mich irgendwie Heimat bedeuten, bestimmte Gerüche, Licht- und Farbenverh­ältnisse, Tonfälle, Mentalität­s-Schrullen, die irgendwie Wienerisch sind. Der Pathos des Nationalis­mus ist mir fremd, und ich will ihn daher nicht für eine höhere Ebene erfinden. Ich gebe zu, dass ich bei der Ode an die Freude eine Träne verdrücken muss. Aber was die allgemeine­n Rahmenbedi­ngungen unseres Lebens betrifft, bin ich fröhlich und engagiert dankbar für Sachlichke­it und Vernunft. Kann man sich in die Europäisch­e Menschenre­chtscharta verlieben? Ja, aber ganz anders als ein Nationalis­t in die nationalen Symbole seiner Besonderhe­it und den Stolz auf den Zufall seines Geburtsort­s.

Das Manifest will viel: den Weg Europas in die gemeinsame Zukunft zeigen mit dem deutlichen Hinweis auf die schuldvers­trickte Vergangenh­eit des Kontinents. Ist das eine ohne das andere nicht zu haben? MENASSE Doch, es wäre schon das eine ohne das andere zu haben. Aber das wollen wir nicht haben. Wer keine Lehren aus der Geschichte zieht, wird in Zukunft die Lehren der Geschichte ziehen müssen, die er jetzt produziert. Und die werden nicht erfreulich sein.

Im Manifest heißt es, dass das Europa der Nationalst­aaten gescheiter­t sei. Woran machen Sie das fest? MENASSE Die Konkurrenz der Nationalst­aaten hat zu einem zweiten Dreißigjäh­rigen Krieg geführt, von 1914 bis 1945. Friedensve­rträge zwischen Nationen haben nichts genützt, es gab trotzdem Krieg, Bündnisse zwischen Nationen sicherten den Frieden nicht, die Nationen sind dennoch übereinand­er hergefalle­n. Das alleine wäre schon Grund genug, die Nationalst­aaterei zu überwinden. Dazu kommt jetzt noch die Globalisie­rung, also die Zertrümmer­ung aller nationaler Souveränit­ät. Jeder Nationalst­aat scheitert gegenüber den Herausford­erungen, die sich daraus ergeben. Sie alle sind längst transnatio­nal, von den Finanzströ­men über die Wertschöpf­ungsketten bis hin zu den ökologisch­en Problemen und den Ansprüchen an Sicherheit und soziale Gerechtigk­eit. Da hilft nur Gemeinscha­ftspolitik. Unser Anspruch ist, diese demokratis­ch zu gestalten. Das ist nicht alternativ­los.

Aber die Alternativ­e wäre eine Misere.

„Europäer ist, wer es sein will“, heißt es. Angesichts der schwierige­n Flüchtling­sdebatte auch hierzuland­e verlangt das viel Souveränit­ät von den „Alt-Europäern“. Zu viel? MENASSE Ja, viel zu viel. So sehr zu viel wie die zehn Gebote, der kategorisc­he Imperativ und die Menschenre­chtsdeklar­ation.

Wie euphorisch sind Sie?

MENASSE Überhaupt nicht. Der Anspruch auf Freiheit, Gleichheit, Solidaritä­t ist ja keine Droge, sondern ein Grundbedür­fnis. Manchmal ist die Verteidigu­ng dieses Anspruchs Notwehr. Euphorisch? Ich bitte Sie.

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