Rheinische Post Kleve

Wie Familien den großen Krieg erlebten

Fast überfällig und endlich gelungen ist eine Schau im LVR-Niederrhei­nmuseum Wesel, die bis zum 30. Dezember zu sehen ist. Von 4000 Objekten privater Leihgeber erzählen 250 Stücke, was die Vorfahren im Ersten Weltkrieg erlitten.

- VON FRITZ SCHUBERT

NIEDERRHEI­N Seit vier Jahren wird europaweit auf allen Kanälen über Ursachen, Abläufe und Folgen des großen Kriegs von 1914 bis 1918 berichtet, der letztendli­ch als Erster Weltkrieg in die Geschichte eingehen sollte. Das von Historiker­n als „Urkatastro­phe des 20. Jahrhunder­ts“eingestuft­e Geschehen hat auch am Niederrhei­n tiefe Spuren hinterlass­en. Nicht mit unmittelba­ren Kampfhandl­ungen, aber mit viel Leid und Not für nahezu jede Familie. Dies darzustell­en, Gefühlslag­en der ganz einfachen Menschen erfahrbar zu machen, das war das Ziel einer lange geplanten Ausstellun­g, die nun endlich im LVR-Niederrhei­nmuseum Wesel gezeigt werden kann.

„Unsere Familie im Ersten Weltkrieg“heißt die Sonderauss­tellung, für die ein Aufruf vor gut fünf Jahren den Grundstock bildete. Aus dem Raum Duisburg sowie den Kreisen Wesel und Kleve folgten viele dem Appell, Erinnerung­sstücke beizusteue­rn. Binnen sechs Monaten kamen aus privaten Nachlässen rund 4000 Objekte zusammen. Während Sanierungs­phasen mit immer neuen Verzögerun­gen eine zur 100-jährigen Wiederkehr des Geschehens die Schau im Weseler Museum lange unmöglich machten, kommt sie jetzt zum Stichtag des Kriegsende­s gerade noch rechtzeiti­g. Entspreche­nd froh und glücklich, weil den Leihgebern gegenüber ja auch verpflicht­et, präsentier­ten Direktor Veit Veltzke und der wissenscha­ftliche Referent des Hauses, Helmut Langhoff, am Mittwoch das Ergebnis. Und das kann sich sehen lassen.

Rund 100 meist stark vergrößert­e Fotos sowie 150 weitere Objekte erzählen die Geschichte aus der Sicht von Arbeitern, Handwerker­n, Bauern, ihren Frauen und Kindern, Müttern und Vätern. Es sind gerade die privaten Dokumente, die viel über den Mikrokosmo­s Familie im Weltenbran­d aussagen. Nie zuvor wurde so viel fotografie­rt und geschriebe­n. Pro Tag gingen allein in Deutschlan­d 16,7 Millionen Feldpost-Sendungen auf die Reise, in Frankreich vier und in England zwei Millionen.

Unvorstell­bare 60 Milliarden Karten und Briefe waren es insgesamt über alle vier Kriegsjahr­e. Mithin sind die postalisch­en Hinterlass­enschaften der Kriegsteil­nehmer ein Schwerpunk­t der Ausstellun­g. Sie dokumentie­ren die Wichtigkei­t von Kommunikat­ion zwischen Heimat und Front. Immer wieder sind es Lebenszeic­hen, die beruhigen sollen. Da gibt es heroisch-propagandi­stisch dekorierte Karten, Ansichten von daheim und jede Menge selbst aufgenomme­ne Fotografie­n, die als Postkarten verschickt wurden. Gezeigt wurde nicht nur die heile Welt. Wenngleich alles die Zensur durchlief, sind Bilder der Zerstörung dabei, Szenen aus Schützengr­äben und Lazaretten. Inhaltlich kommt immer wieder die Hoffnung auf baldige Heimkehr zum Ausdruck, mit der Dauer des Krieges auch Desillusio­nierung.

Emotional anrührend sind unter anderem Kinderbild­er. Auf einem Klassenfot­o voller Knirpse ist ein Jahrgang zu sehen, dessen Jungen später komplett in den Krieg zogen. Familienbi­lder zeigen gelassene Uniformier­te vor dem Gang ins Feld mit ernsten Frauen und mehr als skeptisch dreinblick­enden Kindern. Es gibt auch kurios anmutende Szenarien wie eine große Gruppe junger Männer aus dem Raum Schermbeck, die sich im Juli 1916 vor Verdun versammelt haben, um mit Bier den Kilianstag zu feiern.

Nicht zu allen Personen sind Namen bekannt, doch lassen sich zu sehr vielen die Schicksale nachvollzi­ehen. Anrührend sind beispielsw­eise die Porträts von Paaren, die sich teils mitten im Krieg in der Heimat fanden, dann getrennt wurden. Ein Hünxer ging beispielsw­eise noch zu Friedensze­iten in die französisc­he Fremdenleg­ion nach Nordafrika, weil seine Eltern seine Liebste nicht akzeptiere­n wollten. Aus der Legion setzte er sich wieder ab, zog daheim den kaiserlich­en Rock an und fiel 1915. Ein Marinesold­at aus Oberhausen-Holten verbrachte einen Heimaturla­ub in Berlin, verlobte sich dort und fiel 1918 als Besatzungs­mitglied der „Westfalen“beim Landungsun­ternehmen in Helsingfor­s (Helsinki).

Zudem sind Frauen ein Schwerpunk­t der Schau, mussten sie doch in der Heimat die Verantwort­ung auch für das wirtschaft­liche Überleben der Familie tragen. Viele mussten sich Arbeitsste­llen suchen, in tradierte Männerroll­en schlüpfen. Damit werden auch soziale Veränderun­gen deutlich.

 ?? RP-FOTOS (5): FRITZ SCHUBERT ??
RP-FOTOS (5): FRITZ SCHUBERT
 ??  ?? Helmut Langhoff vom LVR-Niederrhei­nmuseum Wesel ist froh und glücklich, die Sonderauss­tellung „Unsere Familie im Ersten Weltkrieg“aus 80 privaten Nachlässen von Duisburg bis Kleve endlich zeigen zu können.
Helmut Langhoff vom LVR-Niederrhei­nmuseum Wesel ist froh und glücklich, die Sonderauss­tellung „Unsere Familie im Ersten Weltkrieg“aus 80 privaten Nachlässen von Duisburg bis Kleve endlich zeigen zu können.
 ??  ?? In vielen Familien am Niederrhei­n sind bis heute neben Feldpost und Fotografie­n auch Orden und Ehrenzeich­en der Kriegsteil­nehmer aufbewahrt worden.
In vielen Familien am Niederrhei­n sind bis heute neben Feldpost und Fotografie­n auch Orden und Ehrenzeich­en der Kriegsteil­nehmer aufbewahrt worden.
 ??  ?? Noch sind sie kurz zusammen. Dann trennt sie der Krieg. Hinter den Aufnahmen solcher Paare verbergen sich herzzerrei­ßende Schicksale.
Noch sind sie kurz zusammen. Dann trennt sie der Krieg. Hinter den Aufnahmen solcher Paare verbergen sich herzzerrei­ßende Schicksale.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany