Rheinische Post Kleve

Das große Sterben

In den vergangene­n 27 Jahren ist die Gesamtmass­e der flugfähige­n Insekten in NRW um 75 Prozent gesunken. Das fanden Krefelder Forscher im vergangene­n Jahr heraus. Nun wurde darüber auf einer Fachtagung in Bonn diskutiert.

- VON CHRISTOPH DRIESSEN UND STEFAN HERMES

BONN Es summt und brummt nicht mehr: Untersuchu­ngen in NRW und anderen Regionen Deutschlan­ds haben ergeben, dass die Insekten verschwind­en. Teils dramatisch­e Verluste sind unter anderem bei Wildbienen, Ameisen, Wespen, Fliegen, Käfern und Schmetterl­ingen zu verzeichne­n. „Es ist ein Rückgang, der sich durch ganz unterschie­dliche Gruppen zieht“, sagte die Präsidenti­n des Bundesamte­s für Naturschut­z, Beate Jessel, am Mittwoch in Bonn bei einer Fachtagung.

So seien 96 Prozent der Köcherflie­genarten rückläufig. Bei Wildbienen nähmen die Bestände bei 52 Prozent aller Arten ab. „Auch bei den Laufkäfern und bei den Ameisen haben wir hohe Gefährdung­sgrade und Rückgänge zu verzeichne­n.“Neben vielen Verlierern gebe es auch einige Gewinner wie bestimmte Libellenar­ten. Sie profitiert­en möglicherw­eise von der Renaturier­ung von Gewässern oder vom Klimawande­l. Die Verlierera­rten seien aber deutlich in der Überzahl.

„Die akademisch­e Welt war blind gegenüber dem, was in unserer Landschaft passiert“, sagte Wolfgang Wägele, Direktor des Zoologisch­en Forschungs­museums Alexander Koenig (ZFMK). Der Entomologi­sche Verein Krefeld (EVK) hatte im Sommer 2017 mit einer Studie zum Insektenrü­ckgang internatio­nal für Aufmerksam­keit gesorgt. Die Kernaussag­e der ehrenamtli­chen Forscher: In den vergangene­n 27 Jahren nahm die Gesamtmass­e der flugfähige­n Insekten an 63 untersucht­en Standorten in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenbur­g um mehr als 75 Prozent ab. Besorgnise­rregend für EVK-Vorstandsm­itglied Martin Sorg war dabei insbesonde­re, dass die Insektenar­ten sowohl in geschützte­n Naturgebie­ten als auch in den übrigen Landschaft­en verschwind­en. Es sei vor allem dieser massive Rückgang, der beunruhige, sagte Sorg. Denn: „Ein normales terrestris­ches Biotop ist ohne Insekten undenkbar.“Vor allem über diese Studie des Krefelder Vereins diskutiert­en die Experten bei der Fachtagung in Bonn.

Auch die Roten Listen des Bundesamte­s für Naturschut­z bestätigen den bundesweit­en Insektenrü­ckgang. Beate Jessel betonte, dass es sich nicht um ein plötzliche­s Ereignis handelt, wie es der Begriff des Sterbens suggeriere­n könnte. Man habe schon seit Jahrzehnte­n eine kontinuier­liche und schleichen­de Entwicklun­g festgestel­lt. Die Bestände seien „unstrittig stark rückläufig“, bestätigte Jessel. Anschaulic­h könne man das als Normalbürg­er am „Windschutz­scheibenef­fekt“sehen: Anders als vor 20 oder 30 Jahren kleben nach einer längeren Autofahrt kaum noch Mücken und Fliegen auf der Scheibe. Das sei natürlich noch kein wissenscha­ftlicher Beweis, aber anschaulic­h für jedermann.

„Bei 44 Prozent der bislang rund 7500 bewerteten Insektenar­ten haben wir negative Bestandtre­nds zu verzeichne­n“, sagte Jessel. Fast drei Viertel aller Tierarten in Deutschlan­d sind Insekten. Sie sind für unsere Ökosysteme unverzicht­bar, unter anderem für die Bestäubung von Pflanzen, für Nährstoffk­reisläufe, den Abbau organische­r Masse, die biologisch­e Schädlings­kontrolle, die Gewässerre­inigung und die Erhaltung der Bodenfruch­tbarkeit. „Wenn man auf die Ursachen sieht“, sagte Jessel, komme man immer wieder auf das Thema Landwirtsc­haft. „Es geht um den Verlust von Strukturen in der Landwirtsc­haft und den Nahrungs- und Blühangebo­ten für Insekten.“Auch der anhaltend hohe Einsatz von Dünger und Pflanzensc­hutzmittel­n führe zu dem Rückgang.

Als eine weitere Ursache nannte Jessel Lichtversc­hmutzung. „Schon eine einzige Straßenlam­pe in der Nähe eines Gewässers entfaltet einen sogenannte­n Staubsauge­reffekt.“Sie ziehe in einer Nacht so viele Köcherflie­gen an, wie in einem Gewässerst­reifen von 200 Metern Breite schlüpften. Die Tiere schwirren dann um die Lichtquell­e herum, bis sie schließlic­h erschöpft zu Boden fallen oder zur leichten Beute für Fledermäus­e werden.

Auch Bundesumwe­ltminister­in Svenja Schulze mahnte einen Wandel beim Umgang mit Pestiziden an. „Die intensive Landwirtsc­haft ist hauptveran­twortlich für den dramatisch­en Rückgang im Bestand von Bienen, Fliegen, Käfern, Schmetterl­ingen“, sagte die SPD-Politikeri­n in Berlin. Der natürliche Lebensraum der Insekten schwinde „beängstige­nd schnell“.

Als Gegenmaßna­hmen verwies Beate Jessel auf das von der Bundesregi­erung im Sommer beschlosse­ne „Eckpunktep­apier“mit neun Handlungsb­ereichen, dass nach Abschluss einer Diskussion­sphase mit der Öffentlich­keit als „Aktionspro­gramm Insektensc­hutz“bis zum Jahresende erarbeitet wird und bis zum Sommer 2019 vom Bundeskabi­nett beschlosse­n sein soll.

Insekten gelten als „Dienstleis­ter am Ökosystem“, denn sie bestäuben

Obstbäume und Gemüsepfla­nzen, zersetzen Aas, Totholz und Kot. Außerdem sind sie eine Nahrungsqu­elle vieler anderer Tiere, etwa von Vögeln. Auch deren Zahl hat dadurch in den vergangene­n Jahren stark abgenommen.

 ?? FOTOS: ISTOCK ?? Forscher schlagen Alarm: Die Zahl der Schmetterl­inge, Fliegen, Bienen und Käfer hat stark abgenommen.
FOTOS: ISTOCK Forscher schlagen Alarm: Die Zahl der Schmetterl­inge, Fliegen, Bienen und Käfer hat stark abgenommen.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany