Manchmal wie St. Martin sein
Der berühmteste Heilige lehrt auch, was Gemeinschaft bedeutet.
Die Zeit der Martinszüge ist gekommen, der kunstvoll gebastelten Laternen, der eingeübten Lieder, der kleinen Auftritte vor unbekannten Haustüren. Eine Stadt verändert sich in diesen Tagen mit dem Gedenken an den vielleicht populärsten Heiligen: Vor etwa 1700 Jahren entdeckte er als römischer Offizier den christlichen Glauben in sich, verweigerte den Militärdienst und wurde schließlich Bischof. Das ist schon eine ungewöhnliche Glaubensbiografie. Legendär macht ihn aber die Mantelteilung, als er einem frierenden Bettler ein Stück seines Umhangs reicht. Das ist eine Handlung, die den Kern des Brauchtums berührt: Jede Gemeinschaft beruht auf der Bereitschaft zum Teilen. Ohne sie geht es nicht. Aber auch das ist wichtig: Teilen ist nicht Enteignen. Der Heilige macht es ja vor: Er halbiert den Mantel, behält also zurück, was er selbst zum Schutz vor Kälte nötig hat. Zu helfen heißt nicht, ganz und gar selbstlos zu sein. Einfacher und christlicher geht’s nicht. Und doch gelingt es uns nicht immer – mal aus Zeitmangel, Unachtsamkeit oder was auch immer. Mir fällt dann das pathetische, doch auch wahrhaftige Storm-Gedicht „Weihnachtabend“ein: Ein Mensch eilt da durch die Stadt und lässt ein bettelndes Kind praktisch links liegen. Erst daheim erfasst ihn das Grauen: „Doch als ich endlich war mit mir allein, / Erfasste mich die Angst im Herzen so, / Als säß‘ mein eigen Kind auf jenem Stein, / Und schrie nach Brot, indessen ich entfloh.“Obdachlosenhilfen bitten derzeit wieder verstärkt um Unterstützung. Der Winter naht, an Spenden mangelt es offenbar. Weihnachtsmärkte locken, verkaufsoffene Sonntage auch. Wir alle haben in irgendeiner Form die Erfahrung aus dem Storm-Gedicht gemacht. Unsere Scham darüber aber ist nur echt, wenn wir von Zeit und Zeit auch wieder etwas St. Martin sind.