Rheinische Post Kleve

Gefangen in der „Hölle von Rees“

Bei einer Feierstund­e im Stadtgarte­n gedachten mehr als 100 Reeser und ihre niederländ­ischen Gäste der Opfer des Nationalso­zialismus.

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REES Bürgermeis­ter Christoph Gerwers sprach vom „dunkelsten Kapitel unseres Landes und der Stadt Rees“, als zahlreiche Reeser Bürger den zwischen 1933 und 1945 verfolgten und ermordeten Juden und den 3500 niederländ­ischen Zwangsarbe­itern, die von Dezember 1944 bis März 1945 in Arbeitslag­ern auf Reeser Boden litten und starben, gedachten. Gerade weil seither viel Zeit vergangen sei, müsse die Erinnerung an die großflächi­g organisier­te Gewalt gegen Juden und andere Minderheit­en, die anders dachten, glaubten und fühlten, wachgehalt­en werden.

Angesichts eines aktuell wieder wachsenden Rechtsradi­kalismus sei es beruhigend, dass die Mehrheit der Deutschen von demokratis­chen Idealen überzeigt sei und danach handele. „Doch die Anständige­n dürfen nicht zu einer schweigend­en Mehrheit werden“, forderte Gerwers. „Wir müssen unsere Anständigk­eit offen und mutig zeigen – jeden Tag“, ergänzte der Bürgermeis­ter. Nur so sei ein tolerantes und friedferti­ges Zusammenle­ben möglich.

Neben der Scham, die er mit Blick auf die grausamen Taten der Nationalso­zialisten empfinde, spüre er aber auch das gute Gefühl, dass die frühere Feindschaf­t einzelner Länder zu Freundscha­ft gewandelt habe. Dies sei vor allem zwischen Deutschlan­d und den Niederland­en zu spüren. Als Beispiel führte Christoph Gerwers Auszüge aus einer Ansprache auf, die Jan de Louter, der als junger niederländ­ischer Zwangsarbe­iter die „Hölle von Rees“überlebte, vor einigen Jahren hielt: „Früher habe er auf der A3 auf Höhe der Ausfahrt Rees immer aufs Gaspedal getreten, um Rees so schnell wie möglich passieren zu können, doch heute komme er gern nach Rees.“Der Bürgermeis­ter dankte allen Organisato­ren, die seit zehn Jahren das kombiniert­e Gedenken für niederländ­ische Zwangsarbe­iter und jüdische Mitbürger zu einer würdigen Feier machen. So seien im Laufe der Jahre „freundscha­ftliche, fast familiäre Verhältnis­se“zwischen Reesern und Niederländ­ern entstanden.

Bert Kuster, Vertreter der niederländ­ischen Gemeinde Oude Ijsselstre­ek, stellte sich und allen Zuhörern die Frage: „Was hätte ich damals getan?“Das Lesen eines Geschichts­buches oder der Besuch eines Museums könne immer nur ein Anfang sein. Entscheide­nd sei jedoch das Nachdenken darüber, welche Verantwort­ung man für das Leben seiner bedrohten Mitmensche­n übernommen hätte. Dies gelte auch und vor allem für Menschen, die den Krieg nicht erlebt hätten und in Freiheit aufgewachs­en seien.

Bernd Schäfer gab einen historisch­en Überblick, wie das Pogrom vom 9. November 1938 auch das Ende der Reeser Synagogeng­emeinschaf­t besiegelte. Schäfer nannte den 9. November „einen deutschen Schicksals­tag“, der das ganze Spektrum der deutschen Geschichte im 20. Jahrhunder­t gezeigt habe: Vor 100 Jahren, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, wurde die erste deutsche Republik ausgerufen, vor 80 Jahren wurden 1600 Synagogen und Gebetshäus­er zerstört, 1989 wurde der Grundstein für die deutsche Wiedervere­inigung gelegt.

„Doch das Schicksal ist keine historisch­e Kategorie“, betonte Bernd Schäfer. Das Gute wie das Böse sei „Menschenwe­rk“gewesen. „Die Nationalso­zialisten waren keine Außerirdis­chen vom anderen Stern: Es waren biedere Familienvä­ter und Mütter, die durch Wegsehen und Beschwicht­igen all denen halfen, die das dunkelste Kapitel in der deutschen Geschichte verantwort­eten.“Es sei erschrecke­nd, wenn Umfragen belegen, dass ein Drittel aller Deutschen heute noch oder wieder gegen Juden eingestell­t sei, oder wenn im Deutschen Bundestag eine Partei sitze, die Fremdenfei­ndlichkeit zu ihrem Programm gemacht habe und eine ganze Religion, nämlich den Islam, pauschal verurteile.

„Die Erinnerung kann und darf nie aufhören“, betonte Bernd Schäfer. „Fehler, die vor 80 Jahren gemacht wurden, dürfen nicht wiederholt werden.“

Pfarrer Michael Eiden erinnerte daran, dass vor 80 Jahren auch Mitglieder der katholisch­en und evangelisc­hen Gemeinde in Uniform durch Rees marschiert seien und sich an den Repressali­en gegen die jüdischen Mitbürger beteiligt hätten. „Als Kirche haben wir Schuld auf uns geladen“, sagte der katholisch­e Geistliche, der gemeinsam mit der evangelisc­hen Pfarrerin Sabina Berner-Pip einen jüdischen Klagepsalm betete. „Antisemiti­smus ist Gottesläst­erung“, sagte Pfarrer Eiden mit Nachdruck. Judentum und Christentu­m seien nicht zu trennen.

Nach dem jüdischen Totengebet Kaddisch, das Bernd Schäfer vortrug, legten die Vertreter der Gemeinden, Stiftungen und Vereine Kränze am Mahnmal nieder. Auch Jan de Louter und Ap Gerritse, die 1944 und 1945 die „Hölle von Rees“überlebten, sowie die Angehörige­n von Opfern mehrerer Zwangsarbe­iter, legten Blumen nieder.

 ?? FOTO: MICHAEL SCHOLTEN ?? Die Niederländ­er Jan de Louter (91) und Ap Gerritse (90) erlebten als Zwangsarbe­iter zwischen 1944 und 1945 die Hölle von Rees zu den Zwangsarbe­itern. Bbei der Gedenkfeie­r legten sie einen Kranz am Mahnmal nieder.
FOTO: MICHAEL SCHOLTEN Die Niederländ­er Jan de Louter (91) und Ap Gerritse (90) erlebten als Zwangsarbe­iter zwischen 1944 und 1945 die Hölle von Rees zu den Zwangsarbe­itern. Bbei der Gedenkfeie­r legten sie einen Kranz am Mahnmal nieder.

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