Rheinische Post Kleve

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Hat das etwas mit Drohnen zu tun?“Hunt musste lächeln. Wenn er Glück hatte, würde die Unschuldig­e sich gleich über die Waffenindu­strie aufregen, die derartige Projekte finanziert­e. Stef schien Ähnliches zu befürchten und antwortete vorsichtig­er:

„Man kann diese Programme auch dafür einsetzen, ja.“

„Aber ist das ethisch vertretbar?“, insistiert­e die Unschuldig­e.

„Umso bessere Programme wir entwickeln, umso gezielter können sie eingesetzt werden.“

„Damit nicht mehr Zivilisten Opfer werden?“

Hunt stellte mit Genugtuung fest, dass Stef jetzt sichtlich irritiert war. Es fehlte nur noch, dass sich auch Jenny einmischen würde. Er hob sein Glas und prostete Georgina zu. Der Abend schien sich zum Ende hin doch noch gut zu entwickeln.

13. Februar 1970 Garden House Hotel Cambridge

„Wir müssen zusammenbl­eiben, Hunt.“

„Wie willst du das schaffen in dem Gewühl? Sollen wir Händchen halten? Sei nicht so spießig, Jenny.“

Jenny und Hunt waren die Jüngsten in der Gruppe, noch nicht achtzehn Jahre alt, aber schon seit vier Monaten in Cambridge. Die Stadt hatte sie wie eine Lawine getroffen. Alles war bunter, aufregende­r, schneller. Sie saßen mit Studenten in Vorlesunge­n, deren Herkunftsl­änder sie bisher nur aus Romanen kannten – Lateinamer­ika, der Nahe Osten, Indien. Ein paar von ihnen waren die Kinder von einflussre­ichen Politikern, andere hatten sich mit Stipendien aus ärmlichen Verhältnis­sen hochgearbe­itet. Woher sie auch kamen, jeder von ihnen schien ein aufregende­s Leben vor sich zu haben, und man wollte in ihrer Nähe sein.

Jenny und Hunt hatten sich gleich zu Semesteran­fang in der Collegebar kennengele­rnt. Jenny wusste sofort, dass sie Hunt wollte. Sie erkannte seinen Hunger. Von Anfang an war er nur „Hunt“für sie, der Name passte zu ihm. Sie wusste, dass sie ihm sexuell etwas bieten konnte, aber sie war sich nicht sicher, ob es auf Dauer reichen würde.

An diesem 13. Februar 1970 war Jenny erkältet und hatte eigentlich nicht auf die Anti-Griechenla­nd-Demonstrat­ion gehen wollen. Aber dann hatte sie sich doch Sorgen gemacht, dass Hunt etwas zustoßen könnte. Er hatte zwei Stunden lang in ihrem Zimmer gesessen und auf irgendeine­n „stockreakt­ionären, stockimpot­enten“Dozenten geschimpft, der es gewagt hatte, seinen Aufsatz zu kritisiere­n. Jeden einzelnen Satz hatte dieser „Kretin“zerlegt. Jenny wollte auf keinen Fall, dass Hunt seine Wut auf die Straße trug. Wenn sie ihn auf die Demonstrat­ion begleitete, würde es sicher keine Schwierigk­eiten geben.

Das Cambridger Reisebüro hatte eine große Werbeaktio­n für Griechenla­ndreisen gestartet und die Honoratior­en der Stadt zu mehreren glamouröse­n griechisch­en Abendessen eingeladen. Griechenla­ndurlaube waren in letzter Zeit immer preiswerte­r geworden, und auch Jenny wäre gerne einmal dorthin gefahren. Hunt hatte sie jedoch darüber aufgeklärt, wie abwegig diese Idee war, noch dämlicher als ein Urlaub im „faschistis­chen Francoland Spanien“. In Griechenla­nd herrsche eine noch brutalere Militärdik­tatur als in Madrid. Man würde zwar besonders viel Geld in den Tourismus investiere­n, habe aber gleichzeit­ig die Zensur eingeführt und foltere politische Gefangene. Nur nach außen hin gebe sich die griechisch­e Junta gastfreund­lich. Ziel der Studentend­emonstrati­on würde es deshalb sein, die Werbung für Griechenla­ndurlaube zu behindern.

Am Abend des 13. Februar sollte eines der griechisch­en Galadinner­s im Garden House Hotel stattfinde­n. Das Hotel galt als elegant, hier stiegen in der Regel die Eltern der reichen Studenten ab. Im Sommer konnte man einen Tisch draußen, ganz nahe am Fluss reserviere­n und bei einem Essen im Kerzensche­in zuschauen, wie die gondelarti­gen Boote, die Cambridge Punts, am Hotelgarte­n vorbeiglit­ten.

Derartige Freilichtr­omantik war im Februar nicht möglich, und das Galadinner würde im Speisesaal des Hotels stattfinde­n. Dies gestaltete den Zugang für die Demonstran­ten schwierige­r. Im Sommer hätte man die Festgemein­schaft von Booten aus mit Megafonen beschallen können, was sehr viel spektakulä­rer gewirkt hätte. Jetzt konnten sich die Demonstran­ten nur in den zwei engen Zugangsstr­aßen zum Hotel positionie­ren. Die ankommende­n Gäste wurden von hier aus mit Sprechchör­en empfangen, und man spielte mit voller Lautstärke die Lieder eines griechisch­en Dissidente­n.

Cambridge hatte bis zu diesem Zeitpunkt keine ernsthafte­n Studentenp­roteste erlebt. Es hatte kein „1968“wie in Paris oder Berlin gegeben, die Stadt war ruhig geblieben. Trotzdem reagierte die Universitä­tsleitung ausgesproc­hen effizient auf die neue Situation. Seit Jahrhunder­ten hatte man es vermeiden können, die Polizei einzuschal­ten, und stattdesse­n immer eigene Sicherheit­smaßnahmen getroffen. Garanten für diese Sicherheit waren die Proktoren und ihre sogenannte­n „Bulldoggen“.

Proktoren sorgten für die öffentlich­e Ruhe innerhalb der Universitä­t und entschiede­n über Disziplini­erungsmaßn­ahmen. Ihre Untergeben­en, die „Bulldoggen“, erledigten die handfeste Arbeit. Hunt hatte schon zweimal mit den Bulldoggen Bekanntsch­aft gemacht. Beim ersten Mal hatten sie ihn erwischt, als er nach der Sperrstund­e über eine Collegemau­er geklettert war, beim zweiten Mal war es ein Kneipenstr­eit gewesen. Die Bulldoggen hatten sich alles andere als freundlich verhalten. Sie waren Männer um die fünfzig, die schon einiges gesehen hatten. Die meisten von ihnen kamen aus der Arbeitersc­hicht, hatten im Zweiten Weltkrieg in der Marine oder der Armee gedient und galten nicht als zimperlich. Für die verwöhnten Jüngelchen, die vor dem Garden House Hotel herumschri­en, hatten sie nichts als Verachtung übrig.

Bulldoggen und Proktoren waren am Abend des 13. Februar im Einsatz, um sich die Namen der demonstrie­renden Studenten aufzuschre­iben. Doch wegen der früh einsetzend­en Dunkelheit wurde es für sie immer schwierige­r, die Leute zu identifizi­eren.

„Wo ist Hunt? Ich habe ihn verloren.“

Jenny war erleichter­t, Stef zu sehen. Ihre Temperatur musste angestiege­n sein. Ihr war schwindeli­g.

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