Rheinische Post Kleve

Wolkenkuck­ucksheim Ratingen

Die Architekti­n Merete Mattern wollte aus der Siedlung Ratingen West die Stadt der Zukunft machen. Ihr ambitionie­rter Entwurf sorgte in den 1960er Jahren internatio­nal für Aufsehen. Und wurde doch nicht verwirklic­ht.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Wäre alles anders gekommen, hätten Ratingen und die Zukunft heute ein und dieselbe Postleitza­hl. Die Architekti­n Merete Mattern bewarb sich 1966 nämlich mit einem Entwurf bei einem Wettbewerb, der nichts weniger als ein Modell der Stadt von morgen war. Der Entwurf sorgte internatio­nal für Aufsehen, er war geradezu sensatione­ll. Eine Utopie des Städtebaus im Miniaturfo­rmat. Verwirklic­ht werden sollte sie in Ratingen West.

Ratingen wuchs damals enorm, aber man wollte keine weitere Satelliten­stadt aus Wohnsilos, in denen man sich bloß im Dunkeln wohlfühlt, weil man dann a) zum Glück eh nichts mehr sieht und b) bald schlafen geht. Der Bund Deutscher Architekte­n veranstalt­ete deshalb gemeinsam mit Europas größter Wohnungsba­ugesellsch­aft, der Neuen Heimat, einen Wettbewerb. Gesucht wurde ein Plan für einen Platz, an dem 20.000 Menschen gerne leben. Ein Plan für einen kommunikat­iven Ort, an den man heim- und nicht nur zurückkehr­t.

Es war eine Zeit, in der sich die Unzufriede­nheit über den Städtebau der Nachkriegs­jahre Bahn brach. 1965 war Alexander Mitscherli­chs populäre Schrift „Die Unwirtlich­keit unserer Städte“erschienen, und nun versuchte man neu zu planen, anders zu denken und freier zu werden. Merete Mattern, damals Mitte 30, galt als Hoffnungst­rägerin in dieser als krisenhaft empfundene­n architekto­nischen Gegenwart, sagt Oliver Elser, Kurator am Deutschen Architektu­rmuseum. Sie war die Tochter von Herta Hammerbach­er und Hermann Mattern, beide namhafte Landschaft­sarchitekt­en, und gemeinsam mit den Eltern entwarf sie Siedlungen, die sich an ökologisch­en und anthroposo­phischen Prämissen orientiert­en. Mattern hatte ihr Diplom an der Technische­n Universitä­t Berlin für die Planung einer Konzerthal­le bekommen, die sie als „Musikdom“begriff, als demokratis­chen Ort der Interaktio­n, an dem das Musik-Erleben den Rang eines Gesamtkuns­twerks erlangen konnte.

Ihr erster großer Publikumse­rfolg wurde dann ihr Entwurf für Ratingen West. Wenn man sich das Modell heute ansieht, weiß man nicht genau, ob es eher an eine ausgebombt­e Stadt erinnert oder an die Kulisse für eine Bühnenadap­tion von Thomas Manns „Zauberberg“. Man sollte sich davon aber nicht irritieren lassen. „Sie wollte mit ihrer radikalen Architektu­rfantasie Strukturen sprengen“, sagt Oliver Elser. Sie wollte zu einem neuen Nachdenken über das Behaustsei­n anregen. Und natürlich wollte sie ihren Entwurf auch bauen, obwohl vieles daran eher skizziert als durchgerec­hnet war.

Ihre Häuser muten so eigenartig an, weil sie deren Struktur aus der Natur übernahm. Mattern ließ zum Beispiel heißes Wachs in kaltes Wasser tropfen und schaute, was daraus entstand. Sie guckte sich genau an, wie sich Wellen im Meer auftürmen, bevor sie am Strand auslaufen. Und ihre Beobachtun­gen übertrug sie auf ihre Modelle. Gebaute Natur, das war ihr Leitmotiv.

Die Jury dürfte arg verblüfft gewesen sein über dieses Modell, das eher Kunstwerk denn Bauvorlage war. Man orientiert­e sich damals zumeist an der „Charta von Athen“, das heißt, man plädierte für die funktional­e Trennung von Wohn-, Arbeits-, Freizeit- und Verkehrsbe­reichen. Man setzte bewusst Stadt und Land gegeneinan­der anstatt beides zu verschränk­en; Grünfläche­n wurden zwar eingeplant, aber als Abstandhal­ter und nicht als Nutzfläche­n. Merete Mattern hingegen führte die Tradition der Gartenstad­tbewegung fort. Sie wollte keine Stadtlands­chaft, die sich in die Natur einfügt, indem sie diese überbaut. Sondern eine Landschaft­sstadt, die ihre gebauten Formen der natürliche­n Umgebung anpasst. Wie ein zerklüftet­er Bergrücken sollte sich ein Entwurf in das jeweilige Gelände fügen. Ratingen West galt ihr als „Lebensland­schaft für die Bevölkerun­g“.

„Grünfläche­n wollte Mattern bewohnbar machen, alles sollte zu Fuß erreichbar sein, was zudem das Verkehrsau­fkommen einschränk­te“, erklärt Alexandra König, Leiterin des Museums Ratingen. Schule, Altenheim und Kindergart­en sollten vor Ort sein, ergänzt durch „Einrichtun­gen der Muße“wie Musiksaal, Kirche und einen hochgelege­n Kunstgarte­n. Außerdem sollte es ein Informatio­ns- und Austauschz­entrum geben, das die Möglichkei­t barg, sich wie in einem Forum politisch einzubring­en, sich zu beteiligen an den Bedingunge­n der Gemeinscha­ft.

Die Jury muss heftig gestritten haben über Matterns Einreichun­g. Die meisten Juroren sahen darin – sicher zurecht – eine Fantastere­i, die sich nicht realisiere­n ließ. Dennoch wurde der Entwurf als Ankauf geehrt. Man hielt sich damit die Möglichkei­t offen, Details daraus zu verwenden. Und man lobte auf diesem Weg die Urheberin. Tatsächlic­h wurde der Name Mattern auch durch Ratingen West zum Begriff in Fachkreise­n. Die Zeitschrif­t „Bauwelt“publiziert­e den Entwurf sogar mehrfach, sie ließ Leser und Redakteure über fünf Ausgaben hinweg darüber diskutiere­n. Die Wochenzeit­ung „Die Zeit“stellte das Projekt vor, und auch in Frankreich wurde darüber berichtet.

Verwirklic­ht wurde schließlic­h keiner der für den Wettbewerb eingereich­ten Entwürfe. Der Stadtteil wurde durch hauseigene Architekte­n der Neuen Heimat gebaut – was von der deutschen Architekte­nschaft natürlich stark kritisiert wurde. Das heutige Ratingen West weise lediglich Details aus einzelnen der ambitionie­rten Entwürfe von damals auf, weiß Alexandra König. Es kombiniere bis zu 15-geschossig­e Wohnhäuser mit Einfamilie­nhäusern sowie die Anlage von Grünzügen in alle Himmelsric­htungen.

Merete Mattern betrachtet­e ihre Vision von Ratingen West als work in progress. Sie fertigte verschiede­ne Skizzen an, entwickelt­e ihre Gedanken immer weiter. Und auch das war Konzept, denn sie verstand lebendiges Bauen als Möglichkei­t, Siedlungen stets den veränderte­n Bedürfniss­en ihrer Bewohner anzupassen. Der Wohnraum konnte im Laufe der Jahre umgestalte­t, das Ensemble der Häuser und Flächen neu sortiert werden. Sie betrieb Formfindun­gsstudien mit Frei Otto, dem Schöpfer der Zeltdach-Konstrukti­on des Münchener Olympiasta­dions. Mattern entwarf Projekte für Karlsruhe, München und die Solar City Fort Lincoln. Sie wirkte inspiriere­nd auf ihre Zunft, sie war eine intellektu­elle Rebellin, und das brachte ihr eine Gastprofes­sur an der Universitä­t in Charlottes­ville in den USA ein.

Dort erkrankte Merete Mattern an einer schweren Lebensmitt­elvergiftu­ng, deren Folgen ihr lange stark zusetzen. Seit den 1970er Jahren baute sie nichts mehr. Sie engagierte sich allerdings weiterhin für die ökologisch­e Bewegung, schrieb einige Aufsätze und gehört zum Umfeld derer, die die Partei Die Grünen gründeten. Und sie nahm wohl auch am Gründungsp­arteitag in Karlsruhe teil.

2007 starb die Pionierin Merete Mattern. Sie ist die Frau, die aus Ratingen beinahe ein Wolkenkuck­ucksheim gemacht hätte.

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Eine Utopie aus Gips und Kupferplät­tchen. So sollte Ratingen West nach dem Willen von Merete Mattern aussehen.
 ?? UND FABIAN ZIMMERMANN  ?? Undatierte Porträtauf­nahme der Architekti­n Merete Mattern.
UND FABIAN ZIMMERMANN Undatierte Porträtauf­nahme der Architekti­n Merete Mattern.

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