Rheinische Post Kleve

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Churchill College befand sich etwas außerhalb vom Stadtzentr­um. Touristen, die Cambridge besuchten, verirrten sich selten in diese Gegend. Die fotogenen Colleges lagen am Ufer des Flusses Cam, und man konnte mit den Punts an ihnen vorbeiglei­ten. Churchill College hingegen war zwei Kilometer vom Fluss entfernt, bot keine prächtigen Gärten und hatte nicht mal einen Coffeeshop in der Nähe. Auch architekto­nisch war das College für Traditiona­listen uninteress­ant. Es glich einer Sechzigerj­ahre-Symphonie aus Beton. Das wuchtige Eingangspo­rtal führte in eine Flut von großen braunen Steinklötz­en. Zwischen den Steinklötz­en hatte man Grünanlage­n drapiert, doch trotz guter Rasenpfleg­e erinnerten sie eher an einen moosigen Exerzierpl­atz als an einen Ort der Entspannun­g.

Die meisten Churchill-Studenten waren Naturwisse­nschaftler und zeigten sich immun gegenüber dem trüben Charme ihrer Umgebung. Doch die Naturwisse­nschaftler dominierte­n nicht das ganze College. In einem kleinen Teil der großen Anlage fanden sich jeden Werktag um neun Uhr Historiker aus aller Welt zusammen. Sie warteten geduldig darauf, dass das Churchill-Archiv geöffnet wurde und sie ihre Plätze in dem kleinen Lesesaal belegen konnten. Bei aller äußeren Hässlichke­it hatte Churchill College für diese Historiker eine große innere Schönheit zu bieten: die geheimsten Gedanken und Notizen von britischen Politikern der letzten hundert Jahre.

Im Mittelpunk­t der Archivsamm­lung stand Churchill selbst. Sein Nachlass und der seiner Minister wurde hier verwaltet, aber auch die Nachlässe von Margaret Thatcher und vieler anderer konservati­ver Minister und Diplomaten.

Seit Juli 2014 war ein neuer Schatz hinzugekom­men – die Mitrochin-Papiere. David hatte Wera und Jasper alles über diese Dokumente erzählt und ihnen vorgeschla­gen, bei der Auswertung zu helfen. Er würde seine russische Freundin mitbringen, die ihnen die Akten übersetzen könnte. Wera war überrascht gewesen, dass David eine russische Freundin hatte, aber sie wollte unbedingt mehr über die Mitrochin-Papiere erfahren.

Laut Davids Erzählunge­n umwehte diese Dokumente seit Jahren ein Geheimnis. Bisher waren nur Teile von ihnen bekannt geworden. 1999 hatte der Historiker Christophe­r Andrew eine Auswahl publiziert und damit eine große Sensation ausgelöst. In der Folge waren KGB-Agenten weltweit enttarnt worden. Die britische Presse hatte sich damals vor allem auf die Geschichte von Melitta Norwood gestürzt, die jahrzehnte­lang für den KGB spioniert hatte. Als Sekretärin hatte Norwood Zugang zu Unterlagen der britischen Atomwaffen­forschungs­kommission gehabt und ihren Chef bespitzelt. Nach ihrer Pensionier­ung lebte sie in einem bescheiden­en Reihenhaus und ging regelmäßig im Co-op einkaufen. Die Presse nannte sie daher „die Spionin aus dem Co-op“und machte Norwood über Nacht zu einem Fernsehsta­r. Sie reagierte darauf ausgesproc­hen gelassen und gab in einem Statement bekannt, dass sie nichts bereue und ihr Ehemann immer gegen ihre Spionageak­tivitäten gewesen sei (auch das schien sie nicht zu bereuen).

Laut Davids Erzählunge­n hatte Norwoods biederes Äußeres mit der Jungmädche­nhaarspang­e im grauen Haar die britischen Fernsehzus­chauer damals besonders fasziniert. Aber sie war nur eine der vielen Sensatione­n aus dem Mitrochin-Archiv. Auch der Mann, nach dem diese Papiere benannt worden waren, Wassili Mitrochin, wurde über Nacht berühmt. Er hatte im KGB-Archiv gearbeitet und auf diesem Weg Zugang zu allen geheimen Dokumenten erlangt. Angeblich hatte er über Jahre hinweg die Papiere heimlich abgeschrie­ben und dann die Notizen Stück für Stück in seinem Schuh herausgesc­hmuggelt. Aber nur wenige glaubten diese Geschichte.

„Fuck!!!“

Wera hatte noch nie jemanden gehört, der dieses Wort mit solcher Bewunderun­g ausspreche­n konnte wie Jasper. Aus seinem Mund klang es wie das verzückte Kompliment eines Minnesänge­rs.

„Fuck, Wera! Hast du sie gesehen?“

„Ja.“

„Diese Frau sieht aus wie Kiera Knightley!“

„Beruhig dich, Jasper.“

„Noch heißer.“

Sie standen vor dem Eingang des Churchill Colleges und warteten darauf, dass David und seine russische Freundin ihre Fahrräder absperrten und zu ihnen herüberkam­en. Jasper war immer noch fassungslo­s.

„Kannst du mir erklären, wie David das geschafft hat, an so eine Frau ranzukomme­n? „

„Kannst du dich bitte wieder einkriegen?“, flüsterte Wera. „Sie können uns hören.“

„Ich meine, ist das fair? Gibt es einen Gott? Wo ist hier die Gerechtigk­eit?“

Die Kleidung von Davids Freundin war schlicht, sie trug eine Jeans und einen großen dunkelblau­en Pullover. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie zu einer Art Nest hochgestec­kt, aber auf all das achtete man nicht, denn ihr Gesicht mit den hohen Wangenknoc­hen und den großen dunkelgrün­en Augen war so perfekt, dass man es anstarren musste.

David stellte sie einander vor. „Polina, das sind Wera und Jasper.“

„Danke, dass du kommen konntest, Polina“, sagte Wera. „Das ist wirklich eine große Hilfe.“

Polina nickte. „Den Vormittag habe ich frei, aber ich muss um drei Uhr die Kinder von der Schule abholen.“Sie sprach mit einem starken russischen Akzent.

Jasper war verwirrt. „Welche Kinder?“

„Ich arbeite als Au-pair.“

Wera merkte, wie diese Aussage Jasper zu beruhigen schien. Sie konnte sich vorstellen, was er jetzt dachte: Auch wenn Polina wunderschö­n aussah, war sie ganz offensicht­lich keine Elitestude­ntin, mit der er nicht mithalten konnte. In Jaspers Augen gehörte ein russisches Au-pair wahrschein­lich zu dem Heer von armen Leuten, die sich im Westen mehr oder minder erfolgreic­h durchschlu­gen und auf einen Pass oder einen reichen Ehemann hofften.

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